Zwischen Heldenplatz und Innerem Konflikt: Der „Tag der Arbeit“ in Wien aus psychoanalytischer Perspektive

Am 1. Mai verwandelt sich Wien jedes Jahr in ein politisch-symbolisches Theater: Die Wiener Ringstraße wird zur Bühne für den „Tag der Arbeit“, zu dessen Höhepunkt die sozialdemokratische Maikundgebung auf dem Rathausplatz zählt. Die Bilder ähneln sich Jahr für Jahr – rote Fahnen, kämpferische Reden, Musik, Würstelstände. Doch hinter dieser rituellen Wiederholung liegt mehr als ein politisches Ritual. Der „Tag der Arbeit“ in Wien ist tief verwoben mit der österreichischen Geschichte und verkörpert zugleich psychische Spannungen zwischen Ideal und Realität, Fortschritt und Regression, Individualität und Kollektiv.

Arbeit als Mythos der Sozialdemokratie
Die Geschichte des 1. Mai in Wien beginnt mit einer kämpferischen Bewegung: 1890 marschierten erstmals zehntausende Arbeiter:innen durch die Stadt, um für den Achtstundentag und bessere Lebensbedingungen einzutreten. In der Ersten Republik wurde der 1. Mai zum offiziellen Feiertag erklärt – Symbol eines neuen Selbstbewusstseins der Arbeiterklasse. In der Zeit des „Roten Wien“ (1919–1934) wurde Arbeit zur politischen wie kulturellen Identifikationsfigur: Gemeindebauten, Bildungsinitiativen und soziale Infrastruktur entstanden aus der Überzeugung, dass eine gerechtere Gesellschaft möglich sei – durch Arbeit, Solidarität und Organisation.

Psychoanalytisch gesprochen: Die Arbeit wurde hier zum Ich-Ideal erhoben, zur Projektionsfläche für ein gelingendes Leben im Kollektiv. Der Stolz auf Arbeit, auf Leistung, auf soziale Gestaltungskraft ersetzte frühere autoritäre Abhängigkeiten durch ein narzisstisches Ideal der Selbstwirksamkeit.

Trauma und Verdrängung: Der 1. Mai unter Faschismus und Nationalsozialismus
Die Zerschlagung der österreichischen Arbeiterbewegung im Austrofaschismus ab 1933, gefolgt von der NS-Zeit, stellte eine massive traumatische Unterbrechung dar. Der 1. Mai wurde von den Nationalsozialisten vereinnahmt und in einen „Feiertag der nationalen Arbeit“ umgewandelt – mit Marschmusik und Hakenkreuzfahnen am Heldenplatz.

Diese Periode ist in der österreichischen Erinnerungskultur bis heute ambivalent verarbeitet. Der „Tag der Arbeit“ kehrt seit 1945 zwar jährlich als demokratisches Symbol zurück, doch die Verdrängung der autoritären Vergangenheit bleibt ein Schatten, der über ihm liegt. In psychoanalytischen Begriffen: Das Trauma wurde nicht integriert, sondern teilweise abgespalten – was zur Wiederkehr des Verdrängten in Form von politischen Regressionen führen kann.

Der 1. Mai heute: Ritual zwischen Stolz und Leere
Heute erleben wir eine paradoxe Situation: Der „Tag der Arbeit“ wird weiterhin begangen, doch das psychische Fundament – eine kollektive, identitätsstiftende Bedeutung von Arbeit – ist brüchig geworden. In einer Zeit, in der auch in Österreich prekäre Arbeitsverhältnisse, Automatisierung, Burnout und Sinnverlust zunehmen, droht das Ritual hohl zu werden.

Die psychoanalytische Theorie lehrt uns, dass Wiederholungen oft nicht Ausdruck von Stabilität, sondern von Verlust sind. Vielleicht ist das Maifest am Rathausplatz mittlerweile weniger Ausdruck gelebter Arbeiteridentität als vielmehr eine melancholische Inszenierung eines Ideals, das verblasst. Die große Symbolik (Musikkapellen, rote Rosen, der Auftritt der SPÖ-Parteiführung) steht im Kontrast zur inneren Leere, die viele heute in Bezug auf ihre Arbeit empfinden.

Arbeit und das Unbewusste
Arbeit bedeutet mehr als Erwerbstätigkeit – sie ist ein psychisches Gerüst, ein Mittel zur Strukturierung des Alltags, zur Regulierung des Selbstwerts, zur Abwehr von Ohnmachtsgefühlen. Der Verlust von stabilen Arbeitsverhältnissen berührt daher nicht nur das Portemonnaie, sondern das Subjekt in seinem Innersten. Die steigende Zahl an Menschen, die sich psychisch ausgebrannt fühlen, ist Ausdruck dieser tiefgreifenden Verschiebung. Die klassische marxistische Kritik – Entfremdung – bekommt hier eine neue psychodynamische Dimension.

In Wien wird dieser Widerspruch besonders sichtbar, weil die Stadt über Jahrzehnte ein „Versprechen“ verkörperte: das einer solidarischen, sozial gerechten Gesellschaft. Wenn dieses Versprechen nicht mehr eingelöst wird, entstehen Schuldgefühle, Enttäuschung – und nicht selten Wut.

Fazit: Ein Ritual auf der Couch?
Der „Tag der Arbeit“ in Wien könnte auf der Couch eines Analytikers liegen: voller widersprüchlicher Affekte, verdrängter Traumata und narzisstischer Kränkungen. Er erzählt von einstiger Stärke und gegenwärtiger Fragilität, von politischer Identität und psychischer Unsicherheit.

Vielleicht braucht es heute weniger heroische Reden – und mehr Raum für Reflexion. Nicht nur darüber, was Arbeit einmal war, sondern auch darüber, was sie im Innersten bedeutet: als Strukturgeber des Selbst, als Medium für Anerkennung, als unbewusster Austragungsort gesellschaftlicher Konflikte.

Literatur & Referenzen:

Freud, S. (1914). Zur Einführung des Narzissmus. GW X.
Musner, L. (2001). Mythen der Arbeit. Zur Genealogie einer Disziplinierungsfigur. Wien: Turia + Kant.
Pelinka, A. (2005). Österreichische Identitäten im Wandel. Wien: Böhlau.
Busek, S., & Vyslouzil, M. (Hrsg.). (2010). Rotes Wien. 1919–1934. Wien: Mandelbaum Verlag.
Kopeinig, M. (2023). „Erinnerungspolitik am 1. Mai.“ Die Presse.
Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ). Maifeiern – Geschichte und Gegenwart. [Online verfügbar]

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