DSM-orientierte Strukturdiagnostik: Eine psychodynamische Perspektive
In der klinischen Psychotherapie und Psychiatrie ist eine präzise Diagnose von zentraler Bedeutung, um die passende Behandlung und Therapie für Patienten zu finden. In diesem Kontext hat das DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) eine zentrale Rolle als diagnostisches Instrument in der westlichen Psychiatrie eingenommen. Während das DSM die Klassifikation von Störungen auf der Grundlage von Symptomen bietet, bleibt die strukturdiagnostische Betrachtung – das Verstehen der zugrundeliegenden Persönlichkeitsstruktur eines Patienten – eine wesentliche Dimension für eine tiefere und umfassendere Therapieplanung.
In diesem Blogartikel werden wir die DSM-orientierte Strukturdiagnostik aus einer psychodynamischen Perspektive betrachten und aufzeigen, wie diese in der Praxis eingesetzt werden kann. Dabei stützen wir uns auf die Erkenntnisse von Gabbard und seiner psychodynamischen Psychiatriereihe, insbesondere das Werk Psychodynamische Psychiatrie – Ein Lehrbuch (Gabbard, 2014), um zu zeigen, wie psychodynamische Überlegungen mit den strukturellen Diagnosen aus dem DSM kombiniert werden können.
1. Was ist DSM-orientierte Strukturdiagnostik?
Die DSM-orientierte Strukturdiagnostik ist ein diagnostischer Prozess, der sich auf die Psychopathologie und Persönlichkeitsstruktur eines Patienten fokussiert. Hierbei wird versucht, die Symptome einer psychischen Erkrankung im Kontext der zugrunde liegenden Persönlichkeitsmerkmale und Abwehrmechanismen zu verstehen. Während das DSM eine detaillierte Klassifikation von psychischen Störungen liefert, geht die strukturdiagnostische Betrachtung weiter und bezieht sich auf die inneren psychischen Prozesse, die den Symptomen zugrunde liegen.
Die Strukturdiagnostik wird aus einer psychoanalytischen Perspektive betrachtet und konzentriert sich nicht nur auf die Symptome der Krankheit, sondern auch auf die Abwehrmechanismen, Persönlichkeitsorganisation und die Beziehungsdynamik eines Patienten. Gabbard betont in seiner Psychodynamischen Psychiatrie die Wichtigkeit, die Diagnosen des DSM mit einer umfassenderen psychodynamischen Analyse zu ergänzen, um ein vollständiges Bild von der Psyche eines Patienten zu erhalten (Gabbard, 2014).
2. Die Rolle von DSM in der Strukturdiagnostik
Das DSM gibt eine klare Übersicht der verschiedenen psychischen Störungen und deren Symptome. Besonders in der klinischen Praxis ist es für Diagnosen wie affektive Störungen, Angststörungen oder psychotische Störungen von Bedeutung. Doch das DSM bietet nicht immer eine tiefe Einsicht in die Persönlichkeitsstruktur eines Patienten. Um die zugrunde liegende Struktur zu verstehen, ist es wichtig, eine ergänzende psychodynamische Analyse durchzuführen, die über das symptomatische Bild hinausgeht.
Die DSM-orientierte Strukturdiagnostik setzt genau hier an. Sie bezieht sich auf die Frage, wie tief die psychische Störung in der Persönlichkeitsstruktur verankert ist und welche Abwehrmechanismen ein Patient im Umgang mit seinen Konflikten entwickelt hat. Dies erlaubt eine differenzierte Einschätzung darüber, ob ein Patient mit einer neurotischen, borderline oder psychotischen Struktur diagnostiziert wird, was die Herangehensweise an die Therapie erheblich beeinflusst.
3. Die psychodynamische Perspektive: Persönlichkeitsorganisation nach Gabbard
In seiner Psychodynamischen Psychiatrie beschreibt Gabbard die Bedeutung der psychodynamischen Diagnostik und wie die Persönlichkeitsstruktur mit psychischen Störungen zusammenhängt. Er unterscheidet dabei verschiedene Persönlichkeitsorganisationen, die sich nach der Schwere der Störung und dem Grad der psychischen Integration unterscheiden.
Gabbard (2014) beschreibt die Neurotische Struktur als eine, bei der die Abwehrmechanismen weitgehend entwickelt sind und der Patient in der Lage ist, Konflikte relativ funktional zu bewältigen, jedoch in bestimmten Bereichen wie zwischenmenschlichen Beziehungen oder in der emotionalen Verarbeitung von Stress Schwierigkeiten hat. Solche Patienten können in der Regel eine langfristige Therapie in Angriff nehmen, da ihre Abwehrmechanismen nicht völlig blockiert sind.
Im Gegensatz dazu ist die Borderline-Persönlichkeitsstruktur stärker fragmentiert. Gabbard beschreibt diese Struktur als durch eine instabile Selbstwahrnehmung und starke Schwankungen in der Wahrnehmung anderer gekennzeichnet. Patienten mit einer Borderline-Struktur haben oft extreme Abwehrmechanismen wie Spaltung oder Projektive Identifikation, die ihre Beziehungen und ihr Selbstbild erheblich stören. Sie brauchen oft intensivere therapeutische Interventionen, um mit ihren tiefen psychischen Konflikten umzugehen.
Die Psychotische Struktur schließlich, die auch in der DSM-Diagnostik vorkommen kann, bezieht sich auf eine tiefgehende Desintegration der psychischen Funktionen. Patienten mit einer psychotischen Struktur können häufig die Realität und ihre eigenen inneren Impulse nur schwer auseinanderhalten. Gabbard hebt hervor, dass die Behandlung von psychotischen Patienten nicht nur die Symptomlinderung, sondern auch die Stärkung der Ego-Funktionen erfordert.
4. DSM-orientierte Strukturdiagnostik in der Praxis
In der Praxis bedeutet DSM-orientierte Strukturdiagnostik, dass ein Therapeut sowohl symptomatische als auch strukturierte Diagnosen stellt. Das DSM hilft, die Symptome einer Erkrankung zu kategorisieren und zu verstehen, während die Strukturdiagnostik nach Gabbard und anderen psychoanalytischen Theoretikern das innere psychische System und die zugrunde liegende Persönlichkeitsorganisation beleuchtet.
Ein praktisches Beispiel: Ein Patient, der unter depressiven Symptomen leidet, wird möglicherweise nach DSM-Kriterien als major depressive disorder (MDD) diagnostiziert. Eine Strukturdiagnose könnte jedoch weiter untersuchen, ob der Patient auch eine neurotische oder borderline Persönlichkeitsstruktur hat, die die Entwicklung und das Ausmaß der depressiven Symptome beeinflusst. Eine solche differenzierte Diagnose würde es dem Therapeuten ermöglichen, gezieltere Interventionsstrategien zu entwickeln.
Die Integrative Psychotherapie kann in diesem Fall sowohl psychodynamische als auch kognitive-behaviorale Elemente kombinieren, um sowohl die Symptome als auch die zugrunde liegende Persönlichkeitsstruktur des Patienten zu behandeln.
5. Fazit
Die DSM-orientierte Strukturdiagnostik bietet eine wertvolle Erweiterung der traditionellen symptomatischen Diagnose. Sie ermöglicht es Therapeuten, nicht nur die Symptome zu verstehen, sondern auch die tieferliegenden psychischen Konflikte und Abwehrmechanismen zu erkennen, die eine Behandlung beeinflussen können. Gabbard’s Arbeit in der psychodynamischen Psychiatrie zeigt auf, wie eine solche strukturierte Diagnostik sowohl die Effektivität der Behandlung steigern als auch eine differenziertere Sicht auf den Patienten eröffnen kann.
Indem die psychodynamische Theorie und das DSM miteinander kombiniert werden, können Psychotherapeuten den gesamten psychischen Zustand eines Patienten besser begreifen und eine individuellere, tiefere Behandlung entwickeln, die sowohl Symptome adressiert als auch die zugrunde liegenden psychischen Strukturen berücksichtigt.
Literatur:
Gabbard, G. O. (2014). Psychodynamische Psychiatrie – Ein Lehrbuch (4. Aufl.). Springer.