Selbstwahrnehmung und Objektwahrnehmung nach OPD: Einblick in die psychodynamische Diagnostik
In der psychodynamischen Diagnostik stellt die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) ein umfangreiches Modell dar, das zur differenzierten Beurteilung von psychischen Erkrankungen und inneren Konflikten eingesetzt wird. Ein wichtiger Bestandteil dieses Modells ist die Betrachtung der Selbstwahrnehmung und der Objektwahrnehmung, die auf Achse II der OPD erfasst werden. Diese beiden Dimensionen sind von zentraler Bedeutung für das Verständnis, wie ein Individuum sich selbst und seine zwischenmenschliche Welt erlebt und welche tief verwurzelten psychischen Strukturen dabei eine Rolle spielen.
In diesem Blogartikel werden wir die Begriffe Selbstwahrnehmung und Objektwahrnehmung nach OPD genauer unter die Lupe nehmen und ihre Bedeutung für die Diagnostik und Therapie in der psychodynamischen Arbeit erläutern. Wir werden untersuchen, wie diese beiden Wahrnehmungsbereiche miteinander verknüpft sind und welche psychischen Störungen und Konflikte sich in diesen Bereichen manifestieren können.
1. Selbstwahrnehmung nach OPD
Die Selbstwahrnehmung bezeichnet die Fähigkeit eines Individuums, sich selbst zu erkennen und zu begreifen – sowohl in Bezug auf die eigene Identität als auch auf die eigenen emotionale Reaktionen und Bedürfnisse. Sie ist ein zentraler Aspekt der psychischen Gesundheit und bildet die Grundlage für eine stabile Selbstdefinition und Selbstachtung. Ein stabiler Zugang zur Selbstwahrnehmung ermöglicht es einem Menschen, emotionale Erlebnisse und Verhalten auf gesunde Weise zu integrieren und zu reflektieren.
Nach OPD wird die Selbstwahrnehmung anhand ihrer Kohärenz und Stabilität bewertet. Menschen mit einer stabilen Selbstwahrnehmung haben ein konsistentes und differenziertes Bild von sich selbst, während Personen mit einer geringeren Integration oder einer instabilen Identität Schwierigkeiten haben, ihre inneren Widersprüche zu akzeptieren und eine kohärente Selbstsicht aufrechtzuerhalten.
Es gibt verschiedene Integrationsniveaus der Selbstwahrnehmung:
• Hohe Selbstwahrnehmung (Stufe 1): Ein Individuum auf dieser Stufe hat eine klare Vorstellung von sich selbst und seiner Rolle in der Welt. Es ist in der Lage, seine eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Ziele zu erkennen und zu integrieren, ohne dass diese in einem inneren Konflikt stehen.
• Mittlere Selbstwahrnehmung (Stufen 2-3): Hier sind die Selbstwahrnehmung und die Selbstdefinition instabiler, was sich in einem Schwanken zwischen verschiedenen Identitätsbildern äußern kann. Es besteht eine Unklarheit über das eigene Selbst, was zu Selbstzweifeln und Ambivalenzen führt.
• Geringe Selbstwahrnehmung (Stufen 4-5): Auf dieser Stufe ist die Selbstwahrnehmung stark fragmentiert. Individuen haben Schwierigkeiten, ein kohärentes Bild von sich selbst zu entwickeln. Diese Unsicherheit über die eigene Identität führt zu psychischen Belastungen, Beziehungsproblemen und häufig auch zu psychotischen Symptomen.
Die Selbstwahrnehmung beeinflusst alle weiteren Dimensionen der psychischen Gesundheit. Ein stabile Selbstwahrnehmung ist eng mit einem positiven Selbstwertgefühl und einer funktionierenden Affektregulation verknüpft, während eine gestörte Selbstwahrnehmung oft mit psychischen Störungen wie Depression, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen einhergeht.
2. Objektwahrnehmung nach OPD
Die Objektwahrnehmung bezieht sich auf die Art und Weise, wie ein Individuum andere Menschen und die Welt um sich herum wahrnimmt und mit ihnen interagiert. Sie umfasst die Wahrnehmung von Beziehungen, sowohl zu den Eltern als auch zu anderen wichtigen Bezugspersonen, und ist von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung und das Verständnis zwischenmenschlicher Dynamiken.
In der psychodynamischen Theorie, und speziell nach der OPD, wird der Begriff Objekt nicht nur im wörtlichen Sinne verstanden, sondern auch als eine emotionale Erfahrung und psychische Repräsentation von anderen Menschen, die im Inneren eines Individuums gespeichert sind. Diese objektbezogenen Repräsentationen können stark von den frühen Bindungserfahrungen beeinflusst werden und spiegeln wider, wie das Individuum in späteren Beziehungen andere Menschen wahrnimmt und auf sie reagiert.
Die Objektwahrnehmung wird in der OPD auf ihre Kohärenz und Realitätsnähe hin beurteilt. Menschen mit einer gesunden Objektwahrnehmung sind in der Lage, andere Menschen als komplexe, ganzheitliche Wesen wahrzunehmen, die sowohl positive als auch negative Eigenschaften haben. Sie sind in der Lage, ihre Beziehungen auf realistische Weise zu gestalten, mit einer guten Balance zwischen Nähe und Abgrenzung.
3. Die Beziehung zwischen Selbstwahrnehmung und Objektwahrnehmung
Selbstwahrnehmung und Objektwahrnehmung sind eng miteinander verknüpft. Eine klare Selbstwahrnehmung ermöglicht es einem Individuum, auch die Objekte in der Umwelt auf eine differenzierte und realistische Weise wahrzunehmen. Umgekehrt beeinflusst die Art und Weise, wie ein Mensch seine Beziehungen und zwischenmenschlichen Dynamiken wahrnimmt, seine Fähigkeit, sich selbst zu verstehen und zu reflektieren.
Menschen mit einer guten Selbstwahrnehmung tendieren dazu, auch eine gesunde Objektwahrnehmung zu entwickeln, was zu stabileren und gesünderen Beziehungen führt. Umgekehrt kann eine gestörte Selbstwahrnehmung die Wahrnehmung von anderen Menschen verzerren, was zu Fehlinterpretationen und interpersonellen Konflikten führt.
4. Diagnosen und der Einfluss von Selbst- und Objektwahrnehmung
Bestimmte psychische Störungen können stark mit Störungen in der Selbst- und Objektwahrnehmung verbunden sein:
• Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS): Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigen häufig eine stark instabile Selbstwahrnehmung und gespaltene Objektwahrnehmung. Ihre Wahrnehmung von sich selbst und von anderen schwankt stark zwischen idealisierenden und abwertenden Vorstellungen. Sie haben oft Schwierigkeiten, kohärente und stabile Beziehungen zu führen.
• Narzisstische Persönlichkeitsstörung: Personen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung haben häufig eine überhöhte Selbstwahrnehmung, die auf externen Bestätigungen basiert. Ihre Objektwahrnehmung ist oft verzerrt, da sie andere Menschen hauptsächlich als Werkzeuge zur Bestätigung ihres eigenen Selbstwerts sehen.
• Schizophrenie: Bei Menschen mit schizophrenen Störungen ist sowohl die Selbstwahrnehmung als auch die Objektwahrnehmung stark gestört. Diese Patienten können dezente Realitätsverluste erleben, bei denen sowohl ihre Wahrnehmung der eigenen Identität als auch ihre Wahrnehmung der sozialen Welt fragmentiert und desorganisiert ist.
5. Therapeutische Interventionen und Ziele
In der Therapie werden Menschen mit Störungen der Selbst- und Objektwahrnehmung in der Regel durch psychoanalytische Verfahren unterstützt. Ziel ist es, unbewusste Konflikte und Verzerrungen in der Wahrnehmung sowohl von sich selbst als auch von anderen zu erkennen und zu bearbeiten. Dabei wird besonders Wert darauf gelegt, eine kohärente und realistische Selbstwahrnehmung sowie eine ausgewogene und differenzierte Objektwahrnehmung zu fördern.
Die Therapie kann helfen, die inneren Widersprüche zu integrieren und zu einer stabileren Identität zu gelangen, die weniger von äußeren Bestätigungen oder Verzerrungen abhängig ist. Auch das Beziehungsverständnis kann durch diese Arbeit verbessert werden, was zu gesünderen interpersonellen Interaktionen führt.
6. Fazit
Die Selbstwahrnehmung und die Objektwahrnehmung nach OPD sind entscheidende Dimensionen der psychodynamischen Diagnostik. Sie geben tiefgehende Einblicke in die innere Welt eines Menschen und ermöglichen es, die Ursachen für zwischenmenschliche und intrapsychische Konflikte zu verstehen. Die Behandlung von Störungen in diesen Bereichen kann den Patienten helfen, stabilere Beziehungen zu sich selbst und anderen zu entwickeln und ein realistisches Bild von sich selbst und seiner Umwelt zu schaffen.
Literaturangabe:
• OPD-2: Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Hogrefe, 2016.