„Warten auf den echten Patienten: Warum tiefenpsychologische Therapie Abstinenz voraussetzt“
Einleitung
Suchterkrankungen stellen in der psychodynamischen Psychotherapie eine besondere Herausforderung dar. Immer wieder entsteht der Wunsch, „trotzdem“ sofort eine tiefenpsychologische Bearbeitung innerer Konflikte zu beginnen. Doch aus psychoanalytischer Perspektive ist eine ernsthafte, nachhaltige tiefenpsychologische Behandlung erst nach Erreichen einer substantiellen Abstinenz möglich. Dieser Artikel beleuchtet, warum das so ist – und was es davor braucht.
Suchtmittel als Ersatz für psychische Funktionen
Suchtmittel wie Alkohol, Drogen oder auch Verhaltenssüchte wie Glücksspiel oder Essanfälle übernehmen zentrale Funktionen im psychischen Haushalt der Betroffenen. Sie wirken stimmungsmodulierend, angstlösend, betäuben Schmerz oder kompensieren innere Leere.
Wie Khantzian (1997) in seiner „Selbstmedikationstheorie“ beschreibt, greifen Suchtkranke unbewusst zu Substanzen, um unbearbeitete Affekte und innere Konflikte zu regulieren, die andernfalls als überwältigend erlebt würden.
Das bedeutet: Solange der Suchtmittelkonsum besteht, bleibt der Zugriff auf diese Konflikte und Affekte in der Tiefe blockiert. Das Suchtmittel fungiert wie ein „emotionaler Kurzschluss“, der eine differenzierte Selbstwahrnehmung verhindert.
Warum tiefenpsychologische Arbeit Abstinenz voraussetzt
Tiefenpsychologische Therapie zielt darauf ab, unbewusste Konflikte, Affekte und Beziehungsmuster ins Bewusstsein zu heben und bearbeitbar zu machen. Dafür braucht es bestimmte psychische Fähigkeiten auf Seiten des Patienten:
Die Fähigkeit zur Affekttoleranz: Emotionen aushalten zu können, ohne sofort dissoziieren oder kompensieren zu müssen.
Die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung: Eigene innere Zustände wahrnehmen und benennen zu können.
Die Fähigkeit zur Übertragungswahrnehmung: Emotionale Reaktionen auf die Therapeutin oder den Therapeuten als Spiegel innerer Beziehungsmuster erleben zu können.
Solange die Sucht aktiv ist, sind diese Fähigkeiten stark eingeschränkt oder gar nicht zugänglich. Der Patient „flüchtet“ reflexartig in die Substanz, bevor eine echte Auseinandersetzung mit inneren Konflikten stattfinden kann.
Wie Rüger und Mann (2013) betonen, bedeutet Abstinenz in der psychodynamischen Suchtbehandlung nicht nur den Verzicht auf das Suchtmittel, sondern auch die Bereitschaft, sich auf schmerzhafte innere Erfahrungen einzulassen.
Was es davor braucht: Stabilisierungsarbeit
Vor der tiefenpsychologischen Aufarbeitung steht deshalb die Phase der Stabilisierung:
Motivationsarbeit: Der Aufbau einer inneren Motivation zur Abstinenz, jenseits von äußeren Zwängen.
Erlernen von Ersatzstrategien: Entwicklung neuer Möglichkeiten der Affektregulation ohne Substanzgebrauch.
Beziehungsarbeit: Erste Erfahrungen, dass emotionale Not in der therapeutischen Beziehung ausgehalten werden kann, ohne zur Substanz greifen zu müssen.
Diese Phase ähnelt oft einer haltenden, ich-stärkenden Arbeit im Sinne von Winnicotts (1965) Konzept des „holding environment“: Die Therapeutin bietet einen psychischen Raum, in dem die inneren Turbulenzen ausgehalten und schrittweise integriert werden können.
Der echte Beginn der tiefenpsychologischen Arbeit
Erst mit ausreichender Abstinenz taucht der „echte Patient“ auf – jener innere Zustand, in dem verdrängte Konflikte, unbearbeitete Trauer, Wut, Scham und Einsamkeit spürbar werden. Die Therapie kann dann beginnen, diese affektiv aufzuladen und durchzuarbeiten, statt sie weiterhin durch das Suchtmittel zu unterbrechen.
Fazit
Tiefenpsychologische Therapie bei Suchterkrankungen setzt die Bereitschaft voraus, auf die unmittelbare Betäubung durch Substanzen zu verzichten und sich dem inneren Erleben zu stellen. Abstinenz ist deshalb nicht einfach eine Vorbedingung technischer Natur – sie ist der erste therapeutische Akt der Selbstbegegnung. Der Weg dorthin erfordert eine behutsame, schrittweise Stärkung des Ichs und die Entwicklung neuer Formen von Selbstfürsorge und Beziehungserfahrung.
Literatur
Khantzian, E. J. (1997). The Self-Medication Hypothesis of Substance Use Disorders: A Reconsideration and Recent Applications. Harvard Review of Psychiatry.
Rüger, U., & Mann, K. (2013). Psychodynamische Ansätze in der Behandlung von Suchterkrankungen. In: F. Schneider (Hrsg.), Psychotherapie der Suchterkrankungen. Springer.
Winnicott, D. W. (1965). The Maturational Processes and the Facilitating Environment. International Universities Press.