Arbeit, Identität und Widerstand: Eine psychoanalytische Betrachtung des „Tag der Arbeit“ in Spanien

Am 1. Mai wird in Spanien wie in vielen anderen Ländern der „Día del Trabajador“ gefeiert – der „Tag der Arbeit“. Offiziell ist es ein staatlicher Feiertag, geprägt von Demonstrationen, Parolen und kollektiven Bekundungen von Solidarität. Doch hinter diesen sichtbaren Formen politischer Artikulation verbergen sich auch unbewusste Dynamiken, die aus psychoanalytischer Sicht befragt werden können: Welche Rolle spielt Arbeit im psychischen Leben des Einzelnen? Wie manifestieren sich gesellschaftliche Konflikte in innerpsychischen Spannungen – und umgekehrt?

Die Arbeit als Objekt der Identifikation
Freud hat sich zwar nicht systematisch mit dem Begriff der Arbeit beschäftigt, doch seine Vorstellung vom „Arbeitszwang“ als Teil der kulturellen Sublimierung ist zentral. Arbeit, so ließe sich sagen, ist eines der gesellschaftlich akzeptierten Mittel, Triebregungen in sozial produktive Bahnen zu lenken. In der postindustriellen Gesellschaft aber – und in Spanien besonders seit der Wirtschaftskrise ab 2008 – gerät dieses Modell ins Wanken.

Junge Menschen in Spanien sehen sich oft mit einer prekären Arbeitswelt konfrontiert, in der die Möglichkeit, sich über Arbeit zu identifizieren, geschweige denn zu verwirklichen, massiv eingeschränkt ist. Das Ich-ideal, das sich in klassischen Erwerbsbiografien widerspiegelte – Stabilität, Anerkennung, sozialer Aufstieg – scheint für viele unzugänglich geworden. Der „Tag der Arbeit“ wird so nicht nur zu einem Tag des Kampfes um Rechte, sondern auch zu einem Tag der Trauer über verlorene Möglichkeiten der Selbstverwirklichung.

Das Kollektiv und das Unbewusste
Die Massenaufmärsche am 1. Mai in Städten wie Madrid, Barcelona oder Sevilla folgen einer Art rituellem Skript: Banner, Slogans, die rote Fahne der Gewerkschaften – all das evoziert eine historische Kontinuität. Doch dieses kollektive Ritual kann auch als symbolische Wiederaneignung von Handlungsmacht gelesen werden. Die psychoanalytische Sozialpsychologie, etwa in der Tradition von Wilhelm Reich oder Erich Fromm, hat gezeigt, wie politische Bewegungen als Ausdruck tiefer psychischer Bedürfnisse – nach Bindung, Schutz, Gerechtigkeit – verstanden werden können.

Wenn der Einzelne in einer fragmentierten, neoliberalen Arbeitswelt vereinzelt wird, gewinnt das kollektive Ritual des Protestes eine regressiv-kompensatorische Funktion: Es bietet eine Wiederbindung an ein soziales Gefüge. Die Teilnahme an Demonstrationen kann so auch als Abwehr gegen Ohnmachtsgefühle verstanden werden, als Inszenierung von Autonomie in einem System, das oft das Gegenteil produziert.

Spanien: Historische Nachwirkungen und verdrängte Konflikte
Die Geschichte der Arbeit in Spanien ist untrennbar mit politischen Umbrüchen verbunden: Die blutige Unterdrückung der Arbeiterbewegung unter Franco, das Aufleben linker Bewegungen nach der Transición in den 1970er Jahren, die jüngeren Kämpfe gegen Arbeitsreformen und die Austeritätspolitik. Aus psychoanalytischer Sicht ist es aufschlussreich zu fragen, welche dieser Traumata kollektiv verdrängt wurden – und welche immer wiederkehren.

Der Feiertag wird so zum Wiederholungszwang: Jedes Jahr ruft er verdrängte Konflikte ins kollektive Gedächtnis zurück, ohne dass deren unbewusste Dimensionen vollständig verarbeitet wären. Die Parolen ändern sich, doch der Affekt bleibt: Wut, Hoffnung, Enttäuschung – immer in Rotation.

Fazit: Zwischen Protest und Projektion
Der „Tag der Arbeit“ in Spanien ist mehr als ein historisch-politisches Datum. Er ist ein psychischer Schauplatz, auf dem sich individuelle und kollektive Wünsche, Ängste und Abwehrmechanismen überlagern. Arbeit ist nicht nur Erwerb, sondern immer auch ein Symbol für Anerkennung, Autonomie und Zugehörigkeit – und deren Verlust. Die Demonstration am 1. Mai kann somit als Bühne für jene affektive Ökonomie verstanden werden, die in Zeiten sozialer Unsicherheit besonders aktiv ist.

Vielleicht müsste man den „Tag der Arbeit“ in der gegenwärtigen Gesellschaft auch als „Tag der verlorenen Arbeit“, als Tag der Projektionen, als Ort der psychischen Auseinandersetzung mit einem zunehmend entgleitenden Versprechen begreifen: dem Versprechen, dass Arbeit Sinn stiften kann.

Literatur & Referenzen:

Freud, S. (1930). Das Unbehagen in der Kultur. Gesammelte Werke, Bd. XIV.
Fromm, E. (1976). Haben oder Sein. München: dtv.
Reich, W. (1933). Massenpsychologie des Faschismus.
Castel, R. (1995). Die Metamorphosen der sozialen Frage. Konstanz: UVK.
Santos, J. (2022). “El 1º de Mayo en España: historia y luchas sociales.” Revista de Historia Social, 12(2), 34–49.
Fernández-Savater, A. (2013). Política en tiempos de indignación. Madrid: Akal.

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