Anorexia Nervosa und Bulimie in der psychotherapeutischen Praxis: Verantwortung, Kooperation und therapeutische Grenzen
Essstörungen wie Anorexia nervosa und Bulimia nervosa stellen in der psychotherapeutischen Praxis besondere Herausforderungen dar. Insbesondere für Therapeut:innen in privater Niederlassung ist es wichtig, ihre Verantwortung gegenüber Patient:innen, Kooperationspflichten mit medizinischen Kolleg:innen und notwendige Grenzen im therapeutischen Setting klar zu reflektieren. Ein psychoanalytischer Zugang kann dabei wertvolle Einblicke in die inneren Konflikte der Betroffenen liefern – muss sich jedoch stets mit somatischen Risiken und interdisziplinärer Zusammenarbeit abstimmen.
Die psychodynamische Bedeutung von Essstörungen
Psychoanalytisch betrachtet sind Anorexie und Bulimie Ausdruck tiefgreifender unbewusster Konflikte. Häufig stehen Themen wie Autonomie, Kontrolle, orale Bedürfnisse, Ambivalenz gegenüber Weiblichkeit und Sexualität sowie narzisstische Fragilität im Zentrum. Bruchstücke eines unverarbeiteten Selbstbildes, das zwischen Allmachtsfantasien und Ohnmacht pendelt, zeigen sich oft im Verhalten rund ums Essen und Gewicht.
Wie Hilde Bruch (1973) betonte, liegt der Kern der Anorexie in einem „Gefühl ineffektiver Selbstkontrolle“, das durch rigide Nahrungsrestriktion kompensiert wird. Auch Theorien zur Mutter-Kind-Dyade (z. B. Joan Riviere oder später Nancy Chodorow) weisen darauf hin, dass Essstörungen als Abwehr gegen symbiotische Verschmelzungsängste verstanden werden können.
Therapeutische Verantwortung und diagnostische Einschätzung
Die erste Verantwortung der Therapeut:in liegt in der sorgfältigen Einschätzung des Schweregrades und der medizinischen Risiken. Anorexie, insbesondere im restriktiven Typus, kann lebensbedrohlich sein. Die Leitlinie der AWMF (S3-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von Essstörungen“, 2018) empfiehlt bei einem BMI unter 15 oder bei rascher Gewichtsabnahme eine sofortige medizinische Abklärung und gegebenenfalls stationäre Einweisung.
Wichtige Warnzeichen sind:
BMI unter 17,5 (bei Erwachsenen)
Amenorrhoe
Elektrolytstörungen (v. a. bei Bulimie mit Erbrechen)
Bradykardie, Hypotonie, Hypothermie
Haut- und Haarveränderungen
Exzessives Sportverhalten, sozialer Rückzug
Therapeut:innen tragen die Verantwortung, in Fällen somatischer Gefährdung ärztliche Einschätzungen einzuholen – auch gegen Widerstand der Patient:innen. Die psychotherapeutische Schweigepflicht tritt dabei zugunsten der Fürsorgepflicht zurück (§ 203 StGB i.V.m. § 34 StGB – rechtfertigender Notstand).
Kooperation mit Ärzt:innen und Psychiater:innen
Ein kontinuierlicher Austausch mit Allgemeinmediziner:innen, Internist:innen oder Psychiater:innen ist essenziell. Der/die Therapeut:in sollte frühzeitig:
eine somatische Diagnostik (Labor, EKG, Gewicht) veranlassen
eine ärztliche Einschätzung zur Behandlungsfähigkeit in ambulanter Psychotherapie einholen
psychiatrisch abklären lassen, ob eine komorbide Depression, Zwangsstörung oder Borderline-Störung vorliegt
In manchen Fällen ist eine psychopharmakologische Mitbehandlung indiziert, etwa bei starker Anspannung, Suizidalität oder komorbiden affektiven Störungen. Eine vertrauensvolle Kooperation ermöglicht auch im Verlauf Anpassungen – etwa bei Gewichtsverlust oder Entgleisung der Symptomatik.
Setting und Regeln: Klarheit als Schutz
Die Arbeit mit essgestörten Patient:innen verlangt ein klares therapeutisches Setting. Folgende Rahmenbedingungen haben sich bewährt:
Vertragliche Gewichtskontrollen durch Ärzt:innen (nicht durch die Therapeut:in selbst)
Transparente Krisenpläne, was im Fall von Gewichtsverlust oder Selbstgefährdung geschieht
Klare Regeln zum Umgang mit Schweigen, Therapieabbrüchen, Selbstschädigung
Einbindung von Angehörigen – wenn möglich und sinnvoll
Offene Kommunikation über Ambivalenz gegenüber der Behandlung
Die Therapeut:in sollte sich ihrer eigenen Gegenübertragungsreaktionen bewusst sein – Gefühle von Ohnmacht, Ärger oder Wunsch zu „retten“ sind häufig, aber gefährlich, wenn sie unreflektiert bleiben.
Psychoanalytisches Arbeiten unter Risiko: Möglich, aber nicht naiv
Auch in schweren Fällen kann ein tiefenpsychologischer oder analytischer Zugang wertvoll sein – insbesondere, wenn die Patientin nicht (mehr) akut vital gefährdet ist. Der psychoanalytische Raum kann die internalisierten Objektbeziehungen, die sich im Körper ausdrücken, erfahrbar und bearbeitbar machen. Doch braucht dies Zeit, Geduld – und medizinische Begleitung.
„Das Leiden, sich nicht spüren zu können, äußert sich paradox: in einem körperzentrierten Verhalten, das auf Zerstörung zielt“, schreibt Susie Orbach (1986). Die Psychoanalyse kann den inneren Raum öffnen, in dem sich Subjektivität jenseits von Kontrolle und Körperidealisierung entwickeln darf – sofern sie mit der Realität kooperiert.
Fazit
Therapeut:innen in freier Praxis, die mit Patient:innen mit Anorexie oder Bulimie arbeiten, müssen sich ihrer doppelten Verantwortung bewusst sein: als empathische Begleiter:innen innerer Prozesse und als wachsame Beobachter:innen lebensbedrohlicher Entwicklungen. Nur durch enge Zusammenarbeit mit Ärzt:innen und klare therapeutische Absprachen lässt sich ein sicheres Setting schaffen, in dem die tiefere seelische Arbeit überhaupt erst möglich wird.
Literatur
Bruch, H. (1973). Eating Disorders: Obesity, Anorexia Nervosa, and the Person Within. Basic Books.
Orbach, S. (1986). Hunger Strike: The Anorectic’s Struggle as a Metaphor for Our Age. Faber & Faber.
S3-Leitlinie der AWMF (2018): Diagnostik und Behandlung von Essstörungen. AWMF-Registernr. 051-026.
Chassler, J. (1994). „Countertransference and the Treatment of Eating Disorders.“ International Journal of Psychoanalysis, 75(1), 61–72.
Dare, C. et al. (2001). The Clinical Management of Bulimia Nervosa: The NICE Guidelines. London: Gaskell.