Polyamorie und Essstörungen – Psychoanalytische Perspektiven auf Begehren, Bindung und Körper
Polyamorie wird gegenwärtig häufig als Ausdruck einer pluralisierten, flexibleren Liebeskultur verstanden. Mehrere Beziehungen gleichzeitig zu führen, eröffnet Möglichkeiten der Authentizität, der Erweiterung emotionaler Räume und der Abkehr von normativen Beziehungsskripten. Doch gleichzeitig kann die polyamore Lebensform unbewusste Konflikte, Ängste und frühe Bindungsdynamiken aktivieren. Besonders eindrücklich zeigt sich dies, wenn in polyamoren Beziehungskonstellationen Essstörungen auftreten oder reaktiviert werden.
Aus psychoanalytischer Sicht ist eine Essstörung nie „nur“ ein Problem des Essverhaltens. Sie ist eine symbolische Sprache des Körpers, ein Versuch der Regulation von Angst, Scham, Bedürfnissen und Beziehungskonflikten. In polyamoren Kontexten treten bestimmte Konfliktfelder besonders hervor – und diese können mit essgestörten Mustern in Resonanz geraten.
1. Der Körper als Beziehungspartner: Objektbeziehungen und Selbstregulation
Frühe psychoanalytische Theorien – von Freud bis Winnicott – verstehen den Körper als ersten Ort der Beziehung. Hunger, Versorgung und das frühe Beziehungsgeschehen prägen die Fähigkeit, Bedürfnisse wahrzunehmen und emotional zu regulieren.
Bei Essstörungen wird der Körper zu einem kontrollierbaren Objekt (vgl. Bruch, 1973). Im polyamoren Setting, in dem Partner:innen nicht exklusiv zur Verfügung stehen, kann sich das Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstobjekt-Sicherheit verstärken:
Wer bin ich im Vergleich zu anderen Beziehungspartner:innen?
Werde ich ersetzt?
Wie kann ich begehrenswert bleiben?
Wie halte ich die Spannung zwischen Autonomie und Verbundenheit aus?
Der Körper wird so zu einer Art „Drittem“ in der Beziehung: ein Objekt, das gestaltet, diszipliniert oder bestraft wird – um innere Unruhe zu regulieren.
2. Eifersucht, Rivalität und die unbewusste Szene
Polyamorie verlangt ein hohes Maß an mentaler Kapazität zur Ambiguitätstoleranz, „triangulären“ Situationen und zur Integration widersprüchlicher Gefühle. Rivalität, die in monogamen Beziehungen oft verdeckt bleibt, wird explizit erlebbar.
Melanie Klein beschreibt Rivalität als frühkindliche Form von Ambivalenz – Angst, nicht genug zu bekommen, nicht „die Auserwählte“ zu sein (Klein, 1937). Diese archaischen Gefühle können im polyamoren Setting reaktiviert werden.
Essstörungen können hier eine Funktion übernehmen:
Anorektisches Rückzugsprinzip: widersprüchliche Gefühle werden durch Askese abgeschnitten; Kontrolle ersetzt Beziehung.
Bulimische Dynamik: Überflutung, Verlust von Grenzen, gefolgt von Scham und Autorschaftsverlust.
Binge-Eating: der Versuch, Leere und Ausschlussgefühle zu füllen.
Das polyamore Feld wirkt mit seinen Mehrfachbeziehungen wie eine „Bühne“, auf der alte Geschwister- oder Objektverlust-Dynamiken erneut auftreten.
3. Narzissmus, Körperideale und der Blick des Anderen
In vielen polyamoren Gemeinschaften werden Offenheit, Selbstentfaltung und sexuelle Freiheit betont. Doch gerade in liberalen Kontexten entsteht oft ein subtiler Druck:
attraktiv zu bleiben
begehrenswert zu erscheinen
emotional unabhängig zu wirken
nicht „eifersüchtig“ oder „bedürftig“ zu sein
Der französische Psychoanalytiker André Green beschreibt, dass der narzisstische Körper oftmals als „Schutzpanzer“ dient (Green, 1983). Essstörungen können zu einem narzisstischen Regulationsmittel werden: Der Körper soll perfekt werden, um im multiplen Blickfeld der Partner:innen zu bestehen.
Gleichzeitig führt die Pluralisierung von Beziehungen zu einer Pluralisierung der Objekte, was narzisstische Fragilität verstärken kann:
Bin ich genug – und für wen?
4. Polyamorie als Chance – wenn mentale Repräsentationen stabil sind
Polyamorie verstärkt unbewusste Konflikte nicht zwangsläufig. In stabilen psychoanalytischen Strukturen kann sie sogar entlastend wirken:
Abhängigkeiten werden verteilt
Autonomieangst wird reduziert
Rollen können flexibler gestaltet werden
die „Ein-Person-Allmacht“ der monogamen Beziehung wird aufgebrochen
Für Menschen mit stabilen inneren Objekten kann Polyamorie die Möglichkeit eröffnen, dynamischere, weniger verklebte Beziehungsmuster zu leben.
Problematisch wird es dort, wo es an ausreichender innerer Sicherheit fehlt – wo der Körper zur letzten Bastion gegen Verlust-, Scham- oder Konkurrenzangst wird.
5. Therapeutische Perspektiven: Das Dritte im Raum halten
In der Psychoanalyse zeigt sich häufig, dass das Thema Polyamorie weniger mit Sexualität als mit Triangulierung, Abhängigkeit, Autonomie und Selbstwert zu tun hat.
Therapeutisch hilfreich kann sein:
Die unbewusste Funktion der Essstörung zu verstehen: Wovor schützt sie?
Trianguläre Fantasien, Rivalität und Ausschlussangst zu bearbeiten.
Die Polyamorie als symbolische Re-Inszenierung früher Beziehungsmuster zu lesen.
Den Körper nicht zu pathologisieren, sondern seine Sprache zu übersetzen.
Den „Dritten“ im Raum – reale weitere Partner:innen oder innere Introjekte – mental gemeinsam zu halten.
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Fazit
Polyamorie ist kein Risiko- oder Schutzfaktor per se. Sie ist ein komplexes Beziehungssystem, das unbewusste Konflikte intensivieren, aber auch sichtbar machen kann. Essstörungen fungieren in diesem Kontext als Versuch, Beziehungen – und innere Objekte – durch den Körper zu stabilisieren.
Eine psychoanalytische Perspektive erlaubt es, diese Dynamiken lesbar zu machen und den Körper aus seiner funktionalen Rolle zu befreien, damit wieder Beziehung statt Regulation möglich wird.
Literatur & Referenzen
Bruch, H. (1973). Eating Disorders: Obesity, Anorexia Nervosa, and the Person Within. Routledge.
Freud, S. (1915). Triebe und Triebschicksale. In: GW X.
Green, A. (1983). Narcissisme de vie, narcissisme de mort. Paris: Minuit.
Klein, M. (1937). Love, Guilt and Reparation. In: The Writings of Melanie Klein, Vol. 1.
Mitchell, S. (1988). Relational Concepts in Psychoanalysis. Harvard University Press.
Stern, D. (1985). The Interpersonal World of the Infant. Basic Books.
Young, I. (2020). Clinical reflections on non-monogamy and the analytic couple. Psychoanalytic Dialogues, 30(4).
Farrow, T. (2018). Polyamory, desire, and the symbolic order. Journal of the American Psychoanalytic Association,66(5).