Neid, Gier und Verwandlung: Simingtons psychoanalytische Perspektive zwischen Kafka und Greene
1. Die Verwandlung als narzisstisches Drama
In Franz Kafkas „Die Verwandlung“ (1915) erwacht Gregor Samsa eines Morgens als ungeheures Ungeziefer. Eine plötzliche, groteske Metamorphose, die die äußere Form seines inneren Zustands enthüllt: entfremdet, schuldig, überfordert von der Forderung, für alle zu sorgen. Seine Verwandlung ist die physische Manifestation einer psychischen Wahrheit — die Unfähigkeit, in lebendige Beziehung zu treten.
Gregor stirbt am Ende „verwandelte sich in etwas, das verging“ – allein, ausgeschlossen, und nicht integriert. Er ist das Opfer eines unerlösten Neids und einer unbewältigten Gier – jener Gier, die nicht aufnehmen, sondern nur besitzen will, und jenes Neids, der das Gute zerstören muss, weil er es nicht ertragen kann.
Wie Neville Symington (1993, Narcissism: A New Theory) beschreibt, sind Neid und Gier die zentralen Affekte des narzisstischen Zustands:
„Der Narzissmus ist die Weigerung, in Beziehung zu treten. Er will nicht empfangen, weil Empfangen Abhängigkeit bedeutet – und Abhängigkeit ist dem Neid unerträglich.“
Gregor kann nicht mehr nehmen, weil jede Gabe – Liebe, Nahrung, Blick – als Bedrohung erlebt wird. Seine Transformation ist daher nicht ein Werden, sondern ein Rückzug in das Tote, das nicht mehr begehren kann.
2. Simingtons Sicht: Gier als Abwehr gegen Liebe
In seinem Werk „The Analytic Experience: Lectures from the Tavistock“ (1996) unterscheidet John Simington zwischen Gier (greed) und Sehnsucht. Gier ist kein Hunger nach Verbindung, sondern eine zerstörerische Energie, die das Objekt entleert.
„Gier tötet das Objekt, um die Abhängigkeit zu vermeiden. Sie ist die Attacke des Neides auf die Quelle der Lebendigkeit.“
– Simington, 1996
In dieser Lesart ist Gregor Samsas Tod keine reine Tragödie, sondern eine Darstellung jener psychischen Bewegung, in der das Subjekt lieber stirbt, als zu fühlen. Seine Familie repräsentiert das, was ihn umgibt, aber nicht mehr nährt – ein seelisches Milieu, das keinen Raum für Reziprozität lässt.
3. Greene und das Durcharbeiten des Narzissmus
Graham Greene beschreibt in seiner Autobiografie „A Sort of Life“ (1971) und später in „Ways of Escape“ (1980) seine eigene existenzielle Verwandlung: von der Depression und der Selbstzerstörung hin zu einer paradoxen Form der seelischen Integration durch das Schreiben.
Während Kafka Gregor sterben lässt, verwandelt sich Greene schreibend – er durchlebt und reflektiert die narzisstische Leere, statt an ihr zu zerbrechen.
In seiner Sprache wird die Gier nach Bedeutung, nach Kontakt, nach Liebe zu einer literarischen Sublimierung. Seine „Verwandlung“ ist eine narrative Integration: das Denken als Gegengift gegen den Neid.
„If I had not written, I should have been nothing.“
– Graham Greene, A Sort of Life
Im Unterschied zu Gregor gelingt Greene, was Symington als den Kern der psychischen Gesundung bezeichnet: den Neid in Dankbarkeit zu verwandeln.
4. Von Kafka zu Greene: Zwei Wege des Selbstverlusts
| Aspekt | Kafka: Die Verwandlung | Greene: A Sort of Life |
|---|---|---|
| Affektkern | Neid und Gier zerstören das Objekt | Neid und Gier werden reflektiert und transformiert |
| Bewegung | Regression, Selbstzerfall | Durcharbeitung, symbolische Integration |
| Beziehung zum Objekt | Ausschluss, Isolation | Symbolische Wiederaneignung |
| Ergebnis | Tod und Schweigen | Leben durch Schrift und Bedeutung |
Während Kafka das Erstarren im Neid zeigt, beschreibt Greene die fragile Hoffnung, dass Selbsterkenntnis und symbolisches Denken den narzisstischen Kreislauf durchbrechen können.
5. Die psychoanalytische Dimension der Verwandlung
Simington sieht in der analytic experience einen Prozess der Re-connection mit dem Lebendigen, das durch Neid und Gier abgespalten wurde. Der Analysand, ähnlich Gregor, erlebt sich zunächst als „verwandelt“ – deformiert durch Scham und Selbsthass. Erst das Halten dieser Deformation im analytischen Raum ermöglicht eine symbolische Verwandlung: das Wiedererwachen des Selbst als ertragendes, abhängiges, liebendes Wesen.
„The transformation in analysis is from greed to gratitude, from the death of feeling to the capacity to receive.“
– Simington, 1996
In diesem Sinne sind Kafka und Greene zwei Pole derselben menschlichen Wahrheit:
Der eine bleibt im Bann der Zerstörung.
Der andere findet im Symbolischen den Weg zur Wiederbelebung.
6. Die Verwandlung als Prozess des Durcharbeitens
Freuds Begriff des Durcharbeitens (working through, 1914) beschreibt genau das, was Greene literarisch vollzieht und Gregor nicht gelingt: das langsame, schmerzhafte Integrieren des Verdrängten, anstatt es im Akt der Zerstörung zu wiederholen.
Das Durcharbeiten verwandelt Gier in Sehnsucht, Neid in Trauer, Schuld in symbolisches Denken. Der Mensch, der diesen Weg geht, wird – in Simingtons Worten – „from a narcissistic self into a related self“.
Literaturhinweise
Kafka, F. (1915). Die Verwandlung. Leipzig: Kurt Wolff.
Greene, G. (1971). A Sort of Life. London: Bodley Head.
Greene, G. (1980). Ways of Escape. London: Bodley Head.
- Sigmund-Freud-Vorlesungen. (2025). Neid und Gier. Öffentliche Vorlesung, Wien: Sigmund Freud Gesellschaft.
Simington, J. (1996). The Analytic Experience: Lectures from the Tavistock. London: Free Association Books.
Symington, N. (1993). Narcissism: A New Theory. London: Karnac.
Klein, M. (1957). Envy and Gratitude and Other Works. London: Hogarth Press.
Freud, S. (1914). Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. GW X.
7. Schluss: Die innere Verwandlung
Die Verwandlung – ob literarisch, klinisch oder existenziell – ist immer ein Kampf zwischen Neid und Dankbarkeit, zwischen der Sehnsucht nach Verbindung und der Angst vor Abhängigkeit.
Kafka lässt Gregor an dieser Spannung zerbrechen.
Greene verwandelt sie in Literatur.
Simington und Symington zeigen, dass diese Bewegung auch die Essenz der Analyse ist:
die Umwandlung von destruktiver Gier in eine seelische Form der Liebe.
„Die wahre Verwandlung ist die, die den Anderen in uns lebendig lässt.“