Ansteckend – und verantwortlich? Krankheit, Schuld und Rahmensetzung in der psychoanalytischen Praxis
Ein psychoanalytischer Blick auf die Frage der Verantwortung im Krankheitsfall
In der psychoanalytischen Arbeit gehört die Frage der Verantwortung zu den zentralen Dimensionen des therapeutischen Rahmens. Was geschieht jedoch, wenn die Analytikerin selbst erkrankt ist, weiterarbeitet – und sich im Nachhinein die Möglichkeit ergibt, dass Patient:innen sich bei ihr angesteckt haben? Welche Rolle spielen Schuldgefühle, und wie lassen sich solche Situationen ethisch und psychodynamisch einordnen?
Der therapeutische Rahmen: Struktur und Schutz
Der von Bleger (1967) beschriebene Rahmen der analytischen Behandlung ist nicht nur organisatorisch, sondern auch psychodynamisch wirksam. Vereinbarungen über Zeit, Ort, Frequenz – und auch über die Bezahlung ausgefallener Stunden – bilden ein „stilles Gerüst“, das Halt und Begrenzung schafft. Auch kurzfristig abgesagte Sitzungen werden in vielen psychoanalytischen Schulen (z. B. IPA, DPG, DGPT) in Rechnung gestellt, um das Prinzip der Verbindlichkeit und der gemeinsamen Verantwortung zu wahren.
Diese Praxis ist sowohl ethisch vertretbar als auch inhaltlich bedeutsam: Der Umgang mit Krankheit, Ausfall, Präsenz und Abwesenheit wird selbst zum Gegenstand der Analyse.
Krankheit auf Seiten der Analytikerin: Realität und Übertragung
Wenn die Analytikerin krank ist – körperlich oder psychisch – berührt dies eine der Grundannahmen der analytischen Situation: die relative „Neutralität“ und „Verfügbarkeit“ der Behandlerin. Wie Loewald (1971) betont, ist die Präsenz der Analytikerin nicht nur funktional, sondern symbolisch besetzt: Sie verkörpert Kontinuität, Sicherheit, emotionale Stabilität. Ihre Erkrankung durchbricht diese Erwartung – ob sie nun zur Absage der Stunde führt oder nicht.
Im konkreten Fall stellt sich die Frage: Ist es verantwortungsvoll, krank zur Arbeit zu erscheinen? In der Praxis vieler Behandler:innen spielen hierbei verschiedene Faktoren eine Rolle: die subjektive Einschätzung der eigenen Arbeitsfähigkeit, die Nähe zu geplanten Unterbrechungen (z. B. Urlaubszeiten), das Bedürfnis nach Kontinuität – und nicht selten auch unbewusste Abwehrmechanismen gegen den eigenen Ausfall.
Schuldgefühle als Arbeitsmaterial
Kommt es nach einer solchen Situation zu Erkrankungen auf Patient:innen-Seite, stellt sich – oft auch jenseits aller Kausalität – ein Gefühl von Schuld ein. Diese Schuld ist selten rein objektiv begründet, sondern hat oft eine intersubjektive, übertragungsnahe Dimension. Sie ist, mit Freud (1923), nicht nur eine Reaktion auf das reale Übertreten eines Verbots, sondern Ausdruck eines inneren Konflikts zwischen Ich und Über-Ich – zwischen Bedürfnis und Pflicht, zwischen Sorge um sich und Sorge um andere.
Gerade in helfenden Berufen zeigen sich häufig Formen überhöhter Verantwortung (vgl. Hinshelwood, 1999), die historisch oder biografisch fundiert sein können – etwa in einer früh erlernten Rolle als „Fürsorgeinstanz“ in der Familie. Das „Nicht-Perfekt-Sein-Dürfen“ führt dann in Situationen wie Krankheit oder Abwesenheit zu intensiven Schuld- oder Unzulänglichkeitsgefühlen.
Ethik in der therapeutischen Beziehung: Zwischen Verantwortung und Grenzen
Die ethische Dimension der analytischen Arbeit zeigt sich nicht nur in expliziten Entscheidungen, sondern auch in der Haltung, mit der Ambivalenzen und Grenzfälle behandelt werden. Es gehört zur professionellen Aufgabe, Spannungen zwischen Selbstfürsorge und Verantwortung für den analytischen Prozess auszuhalten und zu reflektieren – ohne sich vorschnell in Selbstanklage oder Rechtfertigung zu verlieren.
Wie Margarete Mitscherlich (1984) betont, besteht psychoanalytische Reife nicht in makellosem Verhalten, sondern in der Fähigkeit, innere Konflikte wahrzunehmen, zu verstehen und zu integrieren.
Fazit
Krankheit in der analytischen Praxis ist nicht nur ein organisatorisches, sondern ein symbolisches Ereignis. Sie berührt Fragen von Präsenz und Ausfall, Schuld und Verantwortung, Struktur und Beziehung. Der professionelle Umgang mit solchen Situationen erfordert nicht nur Regeltreue, sondern auch Reflexionsfähigkeit: Die Bereitschaft, auch ambivalente Gefühle (wie Schuld) zuzulassen und in den Dienst des analytischen Prozesses zu stellen.
Literaturhinweise
Bleger, J. (1967). Psychoanalyse des Rahmens. In: Psychoanalytische Arbeiten. Frankfurt: Suhrkamp.
Freud, S. (1923). Das Ich und das Es. In: GW Bd. XIII. Frankfurt: Fischer.
Hinshelwood, R. D. (1999). Countertransference and the Intersubjective Perspective. International Journal of Psychoanalysis, 80, 499–512.
Loewald, H. W. (1971). The therapeutic action of psychoanalysis. In: Papers on Psychoanalysis. New Haven: Yale University Press.
Mitscherlich, M. (1984). Die friedfertige Frau. Frankfurt: Fischer.
Ogden, T. H. (1997). Reverie and interpretation. Psychoanalytic Quarterly, 66, 567–595.