Adipositas aus psychoanalytischer Perspektive: Der Körper als Bühne der inneren Konflikte
Einleitung
Adipositas – definiert als übermäßige Ansammlung von Körperfett – wird in unserer Gesellschaft meist durch biologische, verhaltensorientierte oder soziale Erklärungsmodelle verstanden. Medizinische Diagnosen, Diätprogramme und Verhaltenstherapien dominieren den Diskurs. Doch diese Ansätze allein greifen oft zu kurz. Denn hinter dem körperlichen Symptom „Übergewicht“ verbergen sich nicht selten tieferliegende psychische Dynamiken. Aus psychoanalytischer Sicht erscheint Adipositas weniger als ein isoliertes Problem der Nahrungsaufnahme, sondern vielmehr als Ausdruck innerer Konflikte, ungelöster Traumata und unbewusster Wünsche.
Der Körper als Ort psychischer Repräsentation
In der psychoanalytischen Theorie – von Freud über Melanie Klein bis hin zu moderneren Ansätzen wie der Mentalisierungstheorie – wird der Körper oft als Träger und Ausdruck unbewusster psychischer Zustände verstanden. Besonders in der frühen Entwicklung verschmelzen körperliche und seelische Erfahrungen. Mangelhafte mütterliche Spiegelung, frühe Verlusterfahrungen oder das Gefühl existenzieller Bedrohung können in der kindlichen Psyche Spuren hinterlassen, die später somatisch symbolisiert werden.
Adipositas kann in diesem Zusammenhang als eine Art „zweite Haut“ betrachtet werden – ein Schutzpanzer gegen äußere und innere Bedrohungen. Der Körper wird zur Manifestation eines Bedürfnisses nach Sicherheit, Begrenzung oder auch nach unbewusster Rebellion gegen internalisierte Forderungen.
Essen als Regulierung des Affekthaushalts
In vielen psychoanalytischen Fallgeschichten wird deutlich: Essen dient nicht nur der Bedürfnisbefriedigung, sondern hat eine zentrale Funktion in der Affektregulation. Wenn die Fähigkeit, Gefühle mental zu verarbeiten (Mentalisierung), gestört ist, werden körperliche Handlungen – wie übermäßiges Essen – eingesetzt, um Angst, Wut, Einsamkeit oder Leere abzumildern.
Das Essen – oft ritualisiert und heimlich – wird zum Ersatz für emotionale Nahrung. Statt Beziehungen aktiv zu gestalten, wird eine scheinbar verlässliche Quelle von Trost und Selbstobjekterfahrung (das Essen) gewählt. Dadurch gerät jedoch der Körper immer stärker in den Mittelpunkt des inneren Geschehens: Er wird zur Projektionsfläche von Scham, Selbsthass oder auch grandiosen Phantasien von Kontrolle und Allmacht.
Unbewusste Fantasien und symbolische Bedeutungen
In der analytischen Arbeit mit adipösen Patientinnen und Patienten zeigt sich oft ein komplexes Netz unbewusster Fantasien:
Die Angst vor dem Verzehrtwerden: Übermäßiges Körpervolumen kann unbewusst dazu dienen, sich gegen die Angst zu schützen, von anderen „verschlungen“ oder ausgenutzt zu werden.
Das Bedürfnis nach Unsichtbarkeit: Der große Körper kann paradoxerweise das Bedürfnis widerspiegeln, in einer Welt, die als bedrohlich erlebt wird, nicht gesehen zu werden.
Die Angst vor sexueller Begehrlichkeit: Übergewicht kann auch einen Schutz gegen sexuelle Objektivierung oder retraumatisierende Wiederholungen darstellen.
Der unbewusste Protest: Nicht selten stellt Adipositas eine stille, aber kraftvolle Form des Widerstands gegen normative Erwartungen und gesellschaftliche Ideale dar.
Therapeutische Implikationen
In der psychoanalytischen Behandlung von Adipositas geht es weniger um Gewichtsreduktion als primäres Ziel, sondern um das Verstehen der unbewussten Bedeutungen, die das Symptom trägt. Erst wenn diese inneren Dynamiken behutsam erarbeitet werden, kann eine nachhaltige Veränderung möglich werden.
Die therapeutische Beziehung spielt dabei eine zentrale Rolle: Der Patient erfährt im analytischen Setting möglicherweise zum ersten Mal, dass seine inneren Zustände wahrgenommen, verstanden und gehalten werden können – ohne unmittelbare körperliche „Bewältigung“. Über die Arbeit am Übertragungsgeschehen werden neue Formen des Affekterlebens und der Selbstregulation möglich.
Fazit
Adipositas ist nicht einfach ein „Problem des Essens“, sondern ein komplexes psychosomatisches Phänomen, in dem sich biografische Erfahrungen, unbewusste Konflikte und gesellschaftliche Einflüsse überlagern. Psychoanalytisches Verstehen kann helfen, den Körper nicht länger als Feind oder als reine „Fehlfunktion“ zu erleben, sondern als ein Medium, über das sich tiefe seelische Wahrheiten ausdrücken – und letztlich auch heilen – können.