„Angst und Abwehr“ – Anna Freud über die Mechanismen des Ichs
Literatur:
Freud, A. (1936). Angst und Abwehr. Leipzig/Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
Einführung: Angst als zentrales psychisches Phänomen
Anna Freud, Tochter Sigmund Freuds und eine der Pionierinnen der Ich-Psychologie, untersucht in Angst und Abwehr die Mechanismen, mit denen das Ich auf innere und äußere Bedrohungen reagiert. Angst wird nicht nur als unangenehmes Gefühl verstanden, sondern als Signal für intrapsychische Konflikte. Abwehrmechanismen sind die Mittel, mit denen das Ich versucht, Angst zu regulieren und psychische Stabilität aufrechtzuerhalten.
Das Werk ist grundlegend für die Psychoanalyse, da es die Beziehung zwischen Affekt, Konflikt und Ich-Struktursystematisch darstellt.
Arten von Angst
Anna Freud unterscheidet verschiedene Arten von Angst:
Realangst: Bedrohung durch äußere Realität (z. B. körperliche Gefahr).
Neurotische Angst: Bedrohung durch unbewusste Triebwünsche, die das Ich überfordern könnten.
Moralische Angst: Bedrohung durch das Über-Ich, etwa Schuld- oder Schamgefühle.
Diese Unterscheidung erlaubt es, psychische Symptome differenziert zu verstehen, da Abwehrmechanismen je nach Angstart unterschiedlich aktiviert werden.
Abwehrmechanismen: Strategien des Ichs
Anna Freud beschreibt Abwehrmechanismen als automatische psychische Prozesse, die Angst reduzieren, indem sie die Wahrnehmung, Gefühle oder Gedanken verzerren. Wichtige Mechanismen sind u. a.:
Verdrängung: Unerwünschte Gedanken oder Wünsche werden aus dem Bewusstsein ausgeschlossen.
Projektion: Eigene Gefühle oder Impulse werden anderen zugeschrieben.
Verschiebung: Emotionen werden von der ursprünglichen Quelle auf ein weniger bedrohliches Ziel übertragen.
Rationalisierung: Logische Erklärungen verdecken unbewusste Motive.
Reaktionsbildung: Entgegengesetzte Verhaltensweisen werden ausgelebt, um verbotene Impulse zu kontrollieren.
Anna Freud zeigt, dass Abwehrmechanismen nicht pathologisch, sondern funktional sind – solange sie flexibel bleiben und die Realität nicht dauerhaft verzerren.
Entwicklungspsychologische Perspektive
Ein zentraler Beitrag von Anna Freud ist die Verknüpfung von Angst, Abwehr und Entwicklungsstufen. Kinder entwickeln Abwehrmechanismen in Abhängigkeit von ihrer Reife und den Anforderungen der Umwelt. Frühkindliche Erfahrungen, Bindungssicherheit und elterliche Feinfühligkeit beeinflussen, welche Mechanismen stabilisiert und welche maladaptiv werden.
Damit ist Angst und Abwehr ein Kerntext für das Verständnis von psychischen Symptomen bei Kindern und Erwachsenen, insbesondere von Angststörungen, Zwang und somatischen Symptomen.
Bedeutung für Therapie und Praxis
Klinische Diagnostik: Abwehrmechanismen sichtbar machen, um unbewusste Konflikte zu erkennen.
Intervention: Flexible Abwehr stärken, rigide Abwehr auflösen.
Affektbewusstheit fördern: Angst nicht nur reduzieren, sondern verstehen und integrieren.
Entwicklungsorientierte Therapie: Frühe Erfahrungen einbeziehen, um aktuelle Ängste zu erklären.
Anna Freuds Arbeit liefert damit die Grundlage für die moderne Ich-Psychologie, Entwicklungspsychologie und Kinderpsychotherapie.
Fazit
Angst und Abwehr ist ein Meilenstein der Psychoanalyse. Anna Freud verbindet Theorie, klinische Beobachtung und Entwicklungspsychologie, um zu zeigen, wie das Ich Angst verarbeitet und welche Strategien es entwickelt. Das Buch bleibt unverzichtbar für Therapeut:innen, Psycholog:innen und alle, die verstehen möchten, warum Menschen fühlen, was sie fühlen, und handeln, wie sie handeln, ohne die unbewussten Mechanismen außer Acht zu lassen.