Irrtümer der kindlichen Entwicklung – Ein psychoanalytischer Blick auf Normen, Mythen und das individuelle Tempo
Kaum ein Bereich ist von so vielen Mythen, Missverständnissen und gesellschaftlichen Projektionen durchzogen wie die kindliche Entwicklung. Eltern, Pädagog*innen und sogar Fachleute orientieren sich noch immer an scheinbar festen Entwicklungsnormen: mit welchem Alter ein Kind sprechen, laufen, sauber sein, sich konzentrieren oder sozial kompetent sein sollte.
Der Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo hat in seinen Büchern eindrücklich gezeigt, wie weit diese Vorstellungen oft von der Realität der kindlichen Individualität entfernt sind. In der psychoanalytischen Perspektive erscheinen diese Irrtümer als Ausdruck einer kollektiven Angst vor dem Unvorhersehbaren – der Angst, dass Entwicklung nicht linear, planbar und kontrollierbar ist, sondern ein lebendiger, konflikthafter und hoch individueller Prozess.
1. Irrtum: Kinder entwickeln sich nach festen Altersnormen
Largo zeigt empirisch, was die Psychoanalyse seit Freud und Anna Freud beschreibt: Entwicklung verläuft nicht stufenartig, sondern in Wellen, mit Sprüngen, Plateaus, Rückschritten und Umwegen.
Die psychoanalytische Perspektive ergänzt:
Das Kind bewegt sich im Spannungsfeld zwischen inneren Triebimpulsen, Ich-Reifung, Affektregulation und der emotionalen Verfügbarkeit der Bezugsperson.
Somit ist die Frage nicht:
„Ist mein Kind im Normbereich?“
sondern:
„Wie reagiert mein Kind auf seine innere und äußere Wirklichkeit – und wie kann ich es darin begleiten?“
2. Irrtum: Jedes Verhalten ist erlernt oder erzogen
Ein weiterer Irrtum ist die Annahme, dass Kinder „gemacht“ werden – im Sinne eines formbaren Objekts. Largo betont die Rolle der genetischen Voraussetzungen, der individuellen Reifung und der biologischen Rhythmen.
Psychoanalytisch betrachtet zeigt sich hier die Spannung zwischen elterlicher Allmachtsphantasie und der Realität des kindlichen Subjekts.
Das Kind bringt seine eigene Art zu fühlen, zu denken, zu regulieren und zu interagieren mit – und fordert die Eltern dazu heraus, sich auf diese Individualität einzulassen.
3. Irrtum: Entwicklung ist immer Fortschritt
Die Psychoanalyse weiß: vermeintliche Rückschritte sind oft Ausdruck wichtiger innerer Arbeit.
Regression in die Trotzphase
vorübergehender Verlust zuvor erworbener Fähigkeiten
erhöhte Ängstlichkeit
Schlafprobleme
erneute Abhängigkeit
All dies sind Entwicklungsreaktionen, keine Störungen.
Largo bestätigt diese Sicht: Kinder entwickeln sich diskontinuierlich, und Rückschritte sind häufig ein Zeichen für Reifungsprozesse – etwa nach großen Veränderungen oder nach inneren Konflikten.
4. Irrtum: Frühe Förderung beschleunigt Entwicklung
Ein verbreiteter Mythos besteht darin, dass Kinder durch gezielte Förderung schneller, besser oder „optimaler“ reifen.
Doch sowohl Largo als auch die psychoanalytische Entwicklungspsychologie zeigen: Das Ich reift nicht durch Beschleunigung, sondern durch Halten, Spiegeln und Verarbeiten.
Daniel Stern und Winnicott ergänzen:
Ein überstimulierter Entwicklungsprozess führt zu einem falschen Selbst, das sich an äußeren Erwartungen orientiert statt an inneren Impulsen.
Die wichtigste Entwicklungsförderung ist damit:
Eine sichere, verfügbare, emotional resonante Beziehung.
5. Irrtum: Problematisches Verhalten ist ein Zeichen von Fehlentwicklung
Viele Eltern reagieren auf Wutanfälle, Trotz, Rückzug oder Ängste mit Sorge oder Beschämung. Largo und die Psychoanalyse sehen darin jedoch essentielle Reifungsschritte.
Wut als Signal für Autonomie
Trotz als Schutz des entstehenden Selbst
soziale Unsicherheit als Ausdruck von Überforderung
exzessives Klammern als Bindungssuche
Kinder entwickeln sich über Konflikt, nicht trotz Konflikt.
Anna Freud zeigt, wie Abwehrmechanismen sich in diesen Phasen formen – Schutzmechanismen, die essenziell für das psychische Überleben sind.
6. Irrtum: Die Bezugsperson muss perfekt sein
Dieser Irrtum ist gleichzeitig der schmerzhafteste und befreiendste.
Winnicotts Konzept der „good enough mother“ – der hinreichend guten Mutter – wird von Largo empirisch bestätigt: Was Kinder brauchen, ist nicht Perfektion, sondern Konsistenz, Verlässlichkeit und emotionale Echtheit.
Perfektion erzeugt Stress im Familiensystem – für Eltern und Kinder.
Die Psychoanalyse sieht hier einen kollektiven Druck, der oft aus den unbewussten Ängsten der Eltern selbst entsteht: der Angst, nicht genug zu sein, Fehler zu machen oder Schuld zu tragen.
Kinder brauchen keine perfekten Eltern – sie brauchen relational präsente, authentisch reagierende Bezugspersonen.
Fazit
Die „Irrtümer der Kindesentwicklung“ sind weniger Fehlvorstellungen über Kinder als Fehlvorstellungen über Kontrolle, Planbarkeit und Perfektion.
Psychoanalytisch betrachtet spiegeln sie die elterliche Angst vor dem Ungewissen – vor dem, was sich der eigenen Gestaltung entzieht. Entwicklungsforscher wie Remo Largo machen deutlich: Kinder sind einzigartige Subjekte, die ihr eigenes Tempo, ihre eigene Psyche, ihre eigene Art des Wachsens haben.
Wer diese Individualität anerkennt, schafft Raum für eine Entwicklung, die nicht der Norm folgt, sondern dem inneren Rhythmus des Kindes.