Smartphones, Standortteilen und die Psychoanalyse der digitalen Abhängigkeit – Zwischen Autonomie, Kontrolle und dem Wunsch, „jemandem zu gehören“

Smartphones sind längst nicht mehr nur Kommunikationsgeräte. Sie fungieren als Übergangsobjekte, als Speicher unserer sozialen Welt, als permanente Verbindung zu Anderen. Mit Funktionen wie Standort teilen, Favoriten, Bildschirmzeit-Mitteilungen oder Lesebestätigungen entstehen neue Formen von Nähe, Überwachung und symbolischer Bindung.

Die Psychoanalyse bietet einen fruchtbaren Deutungsrahmen, um zu verstehen, warum digitale Praktiken so tief in das Unbewusste eingreifen – und wie sie Abhängigkeit, Angst und Autonomie neu organisieren.


1. Das Smartphone als digitales Übergangsobjekt

Winnicott beschreibt das Übergangsobjekt als etwas, das die Trennung zwischen innerer und äußerer Welt mildert (Winnicott, 1953). Heute verwalten wir Trennung und Verbundenheit vielfach über unser Smartphone. Es begleitet uns überallhin, schafft Kontinuität und dient als:

  • Regulativ gegen Einsamkeit

  • Sofortige Quelle von Aufmerksamkeit

  • Symbolisches Objekt der Selbstberuhigung

  • „Beziehungscontainer“ für Chats, Fotos, Sprachnachrichten

Der Verlust oder die Abwesenheit des Smartphones (leerer Akku, kein Empfang) wird nicht selten als mikrotraumatischer Moment erlebt – eine Art temporärer Objektverlust.


2. Standortteilen: Nähe, Kontrolle und der Wunsch nach Verschmelzung

Das Teilen des eigenen Standortes wirkt oberflächlich wie eine praktische Sicherheitsfunktion. Psychoanalytisch offenbart es jedoch tiefere Dimensionen:

  • Sicherheitsbedürfnis: „Wenn ich weiß, wo du bist, kann ich beruhigt sein.“

  • Angst vor Bindungsverlust: Die App ersetzt die innere Repräsentation des Anderen.

  • Kontrollphantasien: Der Andere soll transparent, sichtbar, verfügbar sein.

  • Regressionsmoment: Nähe wird nicht über mentale Repräsentation, sondern über Daten erzeugt.

Jessica Benjamin beschreibt Beziehungen oft als Pendeln zwischen Autonomie und Anerkennung des Anderen als Subjekt (Benjamin, 1988). Standortfunktionen können diese Subjektivität bedrohen: Der Andere wird zum Objekt, dessen Bewegungen überwacht werden.

Dabei ist die Frage entscheidend:
Dient das Tracking der Beruhigung – oder ersetzt es die Fähigkeit, innere Unsicherheit selbst zu regulieren?


3. „Favoriten“ und digitale Hierarchien: Wen geben wir hinein – und warum?

Im Smartphone markieren „Favoriten“ jene Menschen, die mit einem Fingertipp erreichbar sein sollen. Das wirkt banal, doch psychoanalytisch ist es ein Ausdruck innerer Objektorganisation:

  • Wem gestehen wir das Privileg der Sofortnähe zu?

  • Wessen Nachricht darf alles andere unterbrechen?

  • Wessen Stimme ist das innere „Halteseil“?

In Freudianscher Sprache entsteht hier eine Hierarchie von „besetzten Objekten“. Beziehungen, die digital priorisiert werden, erhalten unbewusst libidinöse Investition – manche mehr, manche weniger.

Gerade in unsicheren Bindungsstrukturen wird oft versucht, Beziehungssicherheit durch technische Priorisierung zu stabilisieren.


4. Lesebestätigungen, Online-Status und die Logik der Abhängigkeit

Digitale Kommunikation erzeugt neue Formen von mikroskopischen Enttäuschungen und narzisstischen Kränkungen:

  • „Er hat es gelesen, aber nicht geantwortet.“

  • „Sie ist online, aber schreibt mir nicht.“

  • „Warum war er zuletzt aktiv vor 10 Minuten? Mit wem?“

Der Online-Status ist zur sozialen Präsenzmarkierung geworden. Die Rezeption und Regulation dieser Signale ähnelt der frühen Anregungs- und Beruhigungsdynamik zwischen Mutter und Kind (Stern, 1985):

  • Das Ping beruhigt.

  • Das Ausbleiben des Pings destabilisiert.

  • Eine schnelle Antwort ist wie ein bestätigender Blick.

  • Schweigen kann wie eine narzisstische Kränkung wirken.

Die Abhängigkeit von diesen Signalen kann als Versuch, innere Unsicherheit extern zu regulieren, verstanden werden.


5. Autonomie in Zeiten permanenter Erreichbarkeit

Die klassischen psychoanalytischen Konflikte – Autonomie vs. Abhängigkeit, Nähe vs. Distanz – werden durch Smartphones neu inszeniert.

Abhängigkeit

  • ständige Erwartung der Erreichbarkeit

  • unruhiges Warten auf Antworten

  • externalisierte Selbstberuhigung durch das Gerät

Autonomie

  • Wunsch nach Offline-Zeiten

  • Bedürfnis, nicht verfügbar zu sein

  • Angst, durch das Teilen von Daten Kontrolle zu verlieren

Der amerikanische Psychoanalytiker Christopher Bollas beschreibt, wie moderne Technologien zur „Erweiterung des Selbst“ werden (Bollas, 1987). Das Smartphone ist eine solche Erweiterung – doch eine, die den Konflikt zwischen Abhängigkeit und Freiheit verschärft.


6. Digitale Übertragung und Gegenübertragung

Auch in Therapien zeigt sich, dass Smartphone-Dynamiken zu Übertragungsphänomenen führen:

  • Patient:innen berichten obsessive Kontrolle der Online-Aktivität von Partner:innen.

  • Standortteilungen beeinflussen Eifersucht, Vertrauen und Selbstwert.

  • Beziehungskonflikte entzünden sich an digitalen „Anwesenheitszeichen“.

Die digitale Welt wird zum Schauplatz unbewusster Szenen, in denen alte Konflikte – Trennungsangst, Rivalität, Kontrollbedürfnisse – reinszeniert werden.


7. Fazit: Das Smartphone als Spiegel unserer inneren Welt

Smartphones, Standorttracking und Favoritenfunktionen sind keine bloßen technischen Features. Sie sind psychodynamische Räume, in denen Bindung, Kontrolle, Abhängigkeit und Autonomie neu verhandelt werden.

Sie können stabilisieren – wenn sie als Werkzeuge verstanden werden.
Sie können destabilisieren – wenn sie innere Unsicherheiten ersetzen sollen.

Die Herausforderung besteht darin, das Smartphone weder zu verteufeln noch zu idealisieren, sondern es als Teil unserer modernen Objektwelt zu verstehen: ein digitales Drittes, das Nähe ermöglicht, aber auch unbewusste Konflikte aktiviert.


Literatur & Referenzen

  • Benjamin, J. (1988). The Bonds of Love: Psychoanalysis, Feminism, and the Problem of Domination. Pantheon.

  • Bollas, C. (1987). The Shadow of the Object: Psychoanalysis of the Unthought Known. Columbia University Press.

  • Freud, S. (1914). Zur Einführung des Narzißmus. In: GW X.

  • Stern, D. (1985). The Interpersonal World of the Infant. Basic Books.

  • Turkle, S. (2011). Alone Together: Why We Expect More from Technology and Less from Each Other. Basic Books.

  • Winnicott, D. W. (1953). Transitional Objects and Transitional Phenomena. International Journal of Psycho-Analysis, 34.

  • Zuboff, S. (2019). The Age of Surveillance Capitalism. PublicAffairs.

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