Polyamorie und Attachment Theory – Bindung, Begehren und die Kunst des Mehrfach-Haltens
Polyamorie – die Praxis, mehrere Liebesbeziehungen gleichzeitig, transparent und einvernehmlich zu führen – stellt klassische Bindungsvorstellungen infrage. Die westliche Paarbeziehung ist historisch von Exklusivität geprägt; das Versprechen ungeteilter Zuwendung bildet oft den Kern romantischer Sicherheit. In polyamoren Konstellationen hingegen müssen Bindungen geteilt, verhandelt und mental repräsentiert werden.
Aus der Perspektive der Attachment Theory und der psychoanalytischen Objektbeziehungslehre ist dies eine anspruchsvolle Aufgabe. Denn Bindung ist nicht nur ein bewusster Akt, sondern ein tief verankerter affektiver Modus, der von frühen Beziehungserfahrungen, internalisierten Objekten und unbewussten Fantasien geprägt wird (Bowlby, 1969; Ainsworth, 1978).
Dieser Artikel untersucht polyamore Beziehungssysteme aus einem psychoanalytisch-inspirierten bindungstheoretischen Blickwinkel und fragt:
Was geschieht innerlich, wenn Bindung nicht exklusiv ist? Welche Chancen entstehen – und welche Konflikte treten hervor?
1. Bindung als inneres Arbeitsmodell – und die Frage der Aufteilung
John Bowlby beschreibt Bindung als biologisch verankertes System, das Schutz, Sicherheit und Regulation ermöglicht. In der Kindheit bildet sich aus Beziehungserfahrungen ein inneres Arbeitsmodell: Erwartungen darüber, wie Beziehungen funktionieren, was von anderen zu erwarten ist und wie man selbst in Beziehungen agiert.
In einer polyamoren Struktur wird dieses Arbeitsmodell herausgefordert, weil:
Zuwendung nicht exklusiv ist
Beziehungssicherheit nicht nur von einer Person kommt
Nähe und Distanz multipliziert werden
Rivalität und Triangulierung nicht zufällig, sondern strukturell sind
Winnicotts Konzept des „Haltens“ (holding) erhält hier eine neue Dimension: Halt muss nicht nur in einer Dyade, sondern potenziell im Feld mehrerer Beziehungen gefunden und mental gehalten werden.
2. Ambivalenz, Eifersucht und Triangulierung: Aktivierung alter Bindungsmuster
Polyamorie aktiviert häufig archaische Szenen der Triangulierung. Was im monogamen Rahmen oft unbewusst bleibt, wird explizit sichtbar:
die Erfahrung, nicht die einzige zu sein.
Bei sicher gebundenen Personen kann dies zur Erweiterung des mentalen Raums führen. Bei unsicherer Bindung hingegen werden typische Reaktionsweisen sichtbar:
Ängstlich-ambivalente Bindung
intensive Angst vor Austauschbarkeit
ständiger Vergleich mit anderen Partner:innen
übermäßige Bestätigungssuche
idealisierende und abwertende Zyklen
Vermeidend-deaktivierende Bindung
Betonung von Autonomie und „Freiheit“
Rückzug bei emotionaler Nähe
Idealisierung des polyamoren Narrativs, um Bindungsangst zu kaschieren
Schwierigkeiten, Eifersucht zu artikulieren
Desorganisierte Bindung
starke Überflutung durch Mehrdeutigkeit
Identitäts- und Selbstwertinstabilität
Unfähigkeit, Sicherheit in mehreren Objekten gleichzeitig zu halten
Tendenz zu eskalierenden Beziehungskonflikten
Diese Muster zeigen, dass Polyamorie nicht die Bindungsorganisation verursacht, sondern sie sichtbar macht und intensiviert.
3. Das Dritte als Entwicklungsraum
Aus psychoanalytischer Perspektive spielt das „Dritte“ – also das Wissen um eine weitere reale oder innere Person – eine zentrale Rolle in der psychischen Entwicklung.
Žižek spricht vom „Symbolischen Dritten“, Lacan vom „Namen-des-Vaters“, Ogden vom „Dritten Analytischen“ (Ogden, 1994).
In polyamoren Beziehungen ist das Dritte nicht abstrakt, sondern real.
Das kann ermöglichen:
Differenzierung: Ich und Du müssen nicht verschmelzen.
Autonomieentwicklung: Ich darf begehren, ohne zu besitzen.
Regulationsentlastung: Bindungslast wird verteilt.
Reduktion dyadischer Erdrückung: Weniger symbiotische Verstrickung.
Gleichzeitig kann das reale Dritte – Partner:in C – unbewusste Konflikte aktualisieren:
Angst, verlassen zu werden
Identifikatorische Rivalität (Klein)
Regression zu früher Geschwisterdynamik
Reaktualisierung früher Triangulierungswunden
Polyamorie kann daher sowohl ein Entwicklungsraum als auch ein Konfliktbeschleuniger sein – abhängig von der Bindungsorganisation.
4. Mentalisieren im polyamoren Feld
Fonagy und Target beschreiben Mentalisierung als die Fähigkeit, mentale Zustände bei sich selbst und anderen zu verstehen (Fonagy et al., 2002). Polyamorie erfordert ein hohes Maß an Mentalisierung:
mehrere innere Welten gleichzeitig im Blick behalten
Ambivalenzen aushalten
den Partner:innen eigene Bindungen ermöglichen
Eifersucht als sinnvolles Gefühl verstehen, nicht als „Fehler“
Wenn Mentalisierung brüchig ist, kippt das System rasch:
Eifersucht wird zur Bedrohung
Grenzen werden unklar
Autonomie wird als Entzug erlebt
Beziehung wird mit Selbstwert identifiziert
In sicheren Konstellationen dagegen kann Polyamorie zu einer Erweiterung der mentalen Kapazität führen: mehrere Beziehungen gleichzeitig im psychischen Raum halten zu können, ohne innerlich zu zerfallen.
5. Polysecure – Sicherheit in multiplen Beziehungen
Eine zeitgenössische Weiterentwicklung der Bindungstheorie im Kontext polyamorer Lebensformen findet sich bei Jessica Fern (2020). Sie argumentiert, dass Sicherheit nicht an Exklusivität gebunden sein muss, sondern an:
Transparenz
Kohärenz
Kontinuität
Verlässlichkeit
Selbstreflexion
Damit nähert sie sich der psychoanalytischen Haltung:
Bindungssicherheit entsteht nicht durch Besitz, sondern durch mentale Repräsentation, die stabil bleibt, auch wenn andere Objekte dazukommen.
6. Fazit
Polyamorie ist aus psychoanalytischer bindungstheoretischer Perspektive weder per se risikoreich noch per se entwicklungsfördernd. Sie wirkt vielmehr wie ein Verstärker innerer Arbeitsmodelle:
Sicher gebundene Menschen erleben Erweiterung, Freiheit und vertiefte Differenzierung.
Unsicher gebundene Menschen erleben verstärkte Ambivalenz, Rivalität und Angst vor Ersetzbarkeit.
Polyamorie macht sichtbar, wie wir binden, wie wir begehren und wie wir innere Objekte halten können. Sie kann zur Reifung beitragen – vorausgesetzt, die unbewussten Konflikte werden ernst genommen und mental verarbeitet.
Literatur & Referenzen
Ainsworth, M. et al. (1978). Patterns of Attachment. Lawrence Erlbaum.
Bowlby, J. (1969). Attachment and Loss, Vol. 1: Attachment. Basic Books.
Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target, M. (2002). Affect Regulation, Mentalization, and the Development of the Self. Other Press.
Fern, J. (2020). Polysecure: Attachment, Trauma and Consensual Non-Monogamy. Thornapple Press.
Klein, M. (1946). Notes on Some Schizoid Mechanisms. In: The Writings of Melanie Klein, Vol. 3.
Ogden, T. (1994). The Analytic Third. Journal of the American Psychoanalytic Association, 42(1).
Winnicott, D. W. (1960). Ego Distortion in Terms of True and False Self. In: The Maturational Processes and the Facilitating Environment.
Žižek, S. (1992). Enjoy Your Symptom! Routledge.