Neurologie und Psyche: Zwischen Nerven, Körper und unbewussten Konflikten
Neurologische Erkrankungen beschäftigen sich mit dem Nervensystem und seinen Störungen: Kopfschmerzen, Schwindel, Krampfanfälle, Taubheitsgefühle oder Muskelschwäche erscheinen uns zunächst als Zeichen einer rein körperlichen Dysfunktion. Doch aus psychoanalytischer Perspektive lohnt sich ein genauerer Blick. Denn manche Symptome können mehr sein als bloße Fehlfunktionen – sie können eine Sprache darstellen, in der das Unbewusste spricht.
Somatische Metaphern
Der Psychiater Laurence Kirmayer (1992) beschrieb körperliche Symptome als „somatische Metaphern“: Ausdrucksformen, in denen verdrängte Affekte, Konflikte oder Ängste ihren Weg ins Erleben finden. Schon Freud und Breuer zeigten in den Studien über Hysterie (1895), wie seelische Konflikte sich in neurologisch anmutenden Symptomen manifestieren können – Lähmungen, Krämpfe, Schmerzen ohne nachweisbare organische Ursache. Auch wenn die Neurologie seither enorme Fortschritte gemacht hat, bleibt die Frage aktuell, welche unbewussten Bedeutungen in manchen Beschwerden mitschwingen.
Kontrollverlust und innere Angst
Neurologische Krankheitsbilder wie Epilepsie, Multiple Sklerose oder Parkinson haben eine klar nachweisbare organische Grundlage. Dennoch zeigt sich bei vielen Betroffenen, dass die Erfahrung von Kontrollverlust – etwa durch plötzliche Anfälle oder unwillkürliche Bewegungen – eine seelische Dimension berührt: alte Erfahrungen von Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein oder Angst. Michael Schur (1955) wies darauf hin, dass solche Erlebnisse unbewusst gespeicherte Konflikte reaktivieren und die Verarbeitung der Erkrankung zusätzlich belasten können.
Die innere Welt in der Erkrankung
Neurologische Symptome betreffen nicht nur das Nervensystem, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen sich selbst und ihre Umwelt erleben. Eine chronische Erkrankung verändert das Selbstbild, ruft Gefühle von Schwäche oder Abhängigkeit hervor und kann Schuldgefühle oder Aggressionen mobilisieren. Diese Dynamiken sind nicht bloß Begleiterscheinungen, sondern Teil des Krankheitsgeschehens, das den Verlauf und die Lebensqualität entscheidend prägen kann.
Warum Psychoanalyse hier wichtig ist
Während die Neurologie für präzise Diagnostik und Behandlung sorgt, öffnet die Psychoanalyse eine weitere Dimension: Sie fragt nach dem Sinn, der unbewusst in den Symptomen eingeschrieben ist. In einer Analyse können Betroffene erforschen, welche verborgenen Konflikte oder Erinnerungen im Hintergrund wirken, und lernen, einen anderen Umgang mit Krankheit, Schwäche und Verletzlichkeit zu finden.
Fazit
Das Nervensystem ist die Brücke zwischen Körper und Welt – und zugleich ein Resonanzraum für unbewusste Erfahrungen. Neurologische Symptome lassen sich nicht vollständig verstehen, wenn man nur die biologische Ebene betrachtet. Die psychoanalytische Perspektive erweitert den Blick: Sie macht deutlich, dass Krankheit nicht nur eine Störung des Körpers ist, sondern immer auch etwas über das innere Erleben erzählt.
Literatur
Freud, S. & Breuer, J. (1895). Studien über Hysterie. Wien: Franz Deuticke.
Kirmayer, L. J. (1992). The body’s insistence on meaning: Metaphor as presentation and representation in illness experience. Medical Anthropology Quarterly, 6(4), 323–346.
Schur, M. (1955). Comments on the metapsychology of somatization. Psychoanalytic Study of the Child, 10, 119–164.
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