Michel aus Lönneberga und das Dorf: Vom Defizit zur Ressource
Einleitung: Das Kind, das nicht böse ist
Am Ende dieser Serie möchten wir ein Bild von ADHS vermitteln, das jenseits von Defizit und Störung liegt. Kinder mit ADHS sind nicht „böse“, „faul“ oder „unfähig“ – sie sind suchend, neugierig, experimentierfreudig und auf ihre Weise lebendig.
Michel aus Lönneberga, Astrid Lindgrens berühmter Lausbub, steht dafür wie kaum ein anderer literarischer Charakter: er provoziert, experimentiert und scheitert – und doch steckt in jedem seiner Streiche ein Lern- und Entwicklungsimpuls.
Die psychoanalytische Perspektive ermöglicht es, diese kindlichen Impulse nicht als pathologisch zu bewerten, sondern als Ausdruck einer Entwicklungsaufgabe, die Halt, Spiegelung und Struktur benötigt.
Das Dorf als Halteumgebung
In Lindgrens Erzählung übernimmt das Dorf – jeder einzelne Erwachsene, ob Eltern, Magd oder Nachbarn – eine Funktion, die sich psychoanalytisch als „holding environment“ (Winnicott, 1971) beschreiben lässt:
Das Dorf hält das Kind in seinen Handlungen, ohne es zu zerstören.
Fehler werden bemerkt, Grenzen gesetzt, und gleichzeitig bleibt das Kind in Beziehung.
Lob, Anerkennung und Struktur dienen als stabile Rahmenbedingungen, die dem Kind helfen, Impulse zu regulieren und Erfahrungen zu integrieren.
Für Kinder mit ADHS ist diese Art von Umfeld entscheidend. Ein haltender Rahmen ermöglicht Nachreifung, emotionale Regulation und die Entfaltung individueller Ressourcen.
Lob, Spiegelung und Struktur
Gisela Große (2007) beschreibt in „Wie Michel aus Lönneberga“ die Bedeutung von Wertschätzung und indirektem Lob:
Kinder lernen besser, wenn gute Handlungen bemerkt werden, ohne dass ständig Kritik oder Druck überwiegt.
Struktur und klare Regeln helfen, die Umwelt vorhersagbar zu machen und die Aufmerksamkeit auf wesentliche Aufgaben zu lenken.
Spiegelung – die empathische Rückmeldung durch Bezugspersonen – stärkt das Selbstwertgefühl und fördert die symbolische Verarbeitung von Affekten.
In der psychoanalytischen Therapie wird dasselbe Prinzip angewandt: Das Kind erlebt einen sicheren Rahmen, in dem emotionale Impulse gehalten, reflektiert und integriert werden.
Vom Defizit zur Ressource
Wenn ADHS-Kinder als problematisch bewertet werden, tritt leicht die Gefahr auf, sie auf Defizite zu reduzieren. Die Michel-Metapher zeigt eine andere Perspektive:
Impulsivität, motorische Unruhe und kreatives Experimentieren sind Potenziale, keine Makel.
Mit Halt, Struktur und empathischer Spiegelung können Kinder lernen, ihre Energie gezielt einzusetzen.
So wird aus dem, was zuvor als Störung erschien, eine Ressource für Lernen, Beziehung und kreative Problemlösung.
Die Rolle der Erwachsenen – Lehrer, Eltern, Therapeut*innen – ist entscheidend: Sie sind das „Dorf“, das hält, versteht und begleitet, ohne zu überfordern oder zu pathologisieren.
Fazit: Die Kraft des Haltens
ADHS ist nicht nur eine neurobiologische Störung, sondern ein Entwicklungsprozess, der Beziehung, Spiegelung und strukturierte Umwelt benötigt.
Die Geschichte von Michel aus Lönneberga zeigt: Mit einem haltenden Umfeld, empathischer Begleitung und klaren Strukturen kann das Kind wachsen, seine Impulse sinnvoll kanalisieren und seine Ressourcen entfalten.
Die Perspektive verschiebt sich von Defizit zu Potenzial, von Strafe zu Beziehung, von Überforderung zu Halt – und genau darin liegt die Chance für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADHS.
Literatur
Winnicott, D. W. (1971). Playing and Reality. Tavistock Publications.
Lindgren, A. (1963). Michel aus Lönneberga. Rabén & Sjögren.
Große, G. (2007). Wie Michel aus Lönneberga. Beltz & Gelberg.