Krankheit, Abhängigkeit und Autonomie – Psychoanalytische Perspektiven auf das Patient-Sein

Über das Spannungsfeld zwischen Hilflosigkeit, Regression und dem Wunsch nach Selbstbestimmung Krankheit bringt den Menschen in eine existentielle Lage: Sie konfrontiert ihn mit der eigenen Verletzlichkeit, mit der Abhängigkeit von anderen und mit dem Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper. Der Kranke wird zum *Patienten* – vom lateinischen *patiens*, der Leidende, der Ertragende. Dieses „Ertragen“ ist jedoch nicht nur eine körperliche, sondern vor allem eine seelische Zumutung. Der Zusammenbruch der Autonomie Sigmund Freud schrieb in *„Trauer und Melancholie“* (1917), dass der Verlust eines geliebten Objekts einen Teil des Selbst mitreißt. Krankheit kann auf ähnliche Weise erlebt werden: als Verlust der Integrität, der Selbstbestimmung, des gewohnten Selbstbildes. Der Körper, der bislang verlässlich funktionierte, wird fremd; das Ich fühlt sich ausgeliefert an Kräfte, die es nicht beherrschen kann. In dieser Erfahrung des Kontrollverlustes kehren frühe, infantile Situationen wieder – Zeiten, in denen man auf Fürsorge angewiesen war, in denen Abhängigkeit selbstverständlich, aber auch bedrohlich war. Die Regression, die Krankheit hervorruft, ist daher nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein psychisches Phänomen. Abhängigkeit und das Bedürfnis nach „guter Obhut“ Michael Balint (1957) beschrieb in seiner Arbeit mit Ärzt*innen das Konzept des „Arzt-Patient-Verhältnisses“ als eine Form von regressiver Beziehung: Der Patient erlebt den Arzt als „Objekt der Fürsorge“, ähnlich einer frühen Mutterfigur. Balint unterschied zwischen der „Arznei“ und der „Arzt-Persönlichkeit“ – die Beziehung selbst sei das wichtigste therapeutische Instrument. In dieser Beziehung wiederholen sich frühe Muster von Vertrauen, Angst und Enttäuschung. Der Arzt kann zum Retter oder zum Über-Ich werden, der Patient zum abhängigen Kind oder zum rebellischen Jugendlichen. Jede Behandlung enthält damit ein Beziehungsgeschehen, das weit über die medizinische Dimension hinausgeht. Donald W. Winnicott hat diesen Zusammenhang vertieft, indem er das Bedürfnis nach „holding“ – dem seelischen Gehaltenwerden – in den Mittelpunkt rückte. In Krankheitssituationen wird dieses Bedürfnis reaktiviert: Der Kranke sucht nicht nur Heilung, sondern ein Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit, das die Regression erträglich macht. Das Krankenhaus, das Pflegepersonal, der Arzt können symbolisch die Funktion einer haltenden Mutter übernehmen – oder, wenn das Vertrauen fehlt, zum Ort erneuter Enttäuschung werden. Zwischen Abhängigkeit und Autonomie Der Patient steht in einem Spannungsfeld: Einerseits wünscht er sich, ernst genommen und versorgt zu werden; andererseits erlebt er Scham, Ohnmacht und Widerstand gegenüber dieser Abhängigkeit. Das Bedürfnis, „selbst zu bestimmen“, kollidiert mit der Notwendigkeit, „sich bestimmen zu lassen“. Diese Ambivalenz zeigt sich besonders deutlich bei chronisch Kranken oder langzeitbehandelten Patient*innen: Sie entwickeln oft ein ambivalentes Verhältnis zum medizinischen System – zwischen Dankbarkeit und Ärger, zwischen Vertrauen und Misstrauen. Unbewusst wird der Arzt zur inneren Figur, an der sich frühere Beziehungserfahrungen wiederholen. Freud hätte hier von einer *Übertragungssituation* gesprochen: Der Arzt wird zum Objekt, an das sich unbewusste Gefühle von Abhängigkeit, Rivalität, Schuld oder Dankbarkeit heften. Die Art und Weise, wie jemand „Patient“ ist, erzählt daher viel über seine frühe Objektbeziehungsgeschichte – über seine Fähigkeit, Hilfe zu erbitten, zu empfangen und wieder loszulassen. Das Paradox des Heilens Psychoanalytisch betrachtet ist das Heilen kein rein medizinischer Vorgang, sondern auch eine Wiederholung und Neuinszenierung von Abhängigkeit. Balint sprach davon, dass jede Heilung einen „therapeutischen Regressionsraum“ braucht – einen Raum, in dem das Ich die Erfahrung machen kann, gehalten zu werden, ohne zerstört zu werden; abhängig zu sein, ohne sich zu verlieren. Winnicott nannte dies die „abhängige Unabhängigkeit“: Nur wer sich gehalten fühlt, kann sich auch autonom entwickeln. In Krankheitssituationen wird dieser Zusammenhang sichtbar – die scheinbar passive Rolle des Patienten birgt das Potenzial einer tiefen psychischen Erfahrung, wenn sie in einem haltenden und verstehenden Umfeld erlebt werden kann. Literaturhinweise: Balint, M. (1957). *The Doctor, His Patient and the Illness.* London: Pitman Medical. Freud, S. (1917). *Trauer und Melancholie.* GW X. Winnicott, D. W. (1960). *Ego Distortion in Terms of True and False Self.* In: *The Maturational Processes and the Facilitating Environment.* London: Hogarth Press, 1965. Winnicott, D. W. (1965). *The Maturational Processes and the Facilitating Environment.* London: Hogarth Press. Balint, M. (1968). *The Basic Fault: Therapeutic Aspects of Regression.* London: Tavistock. Krankheit kann uns auf eine Weise abhängig machen, die uns an früheste Erfahrungen erinnert – an das Bedürfnis, gehalten zu werden, und die Angst, sich darin zu verlieren. In diesem Spannungsfeld zwischen Regression und Autonomie liegt das Menschliche des Patient-Seins.*

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