Innere Organisation und Abwehr: Über die psychische Architektur von Neid und Gier

Eine psychoanalytische Reflexion nach Klein, Rosenfeld, Bion, Symington und Simington


1. Zwischen Struktur und Verteidigung

Was unterscheidet eine innere Organisation von einer Abwehr?
In der psychoanalytischen Theorie beschreibt die innere Organisation die stabile, wiederkehrende Struktur, mit der das Selbst und seine Objekte miteinander verbunden sind. Sie ist das seelische Milieu, in dem Affekte, Fantasien und Bedeutungen zirkulieren.

Eine Abwehr dagegen ist eine Funktion – eine psychische Aktion, die etwas abwehrt, was unerträglich ist.
Die Organisation ist das Muster;
die Abwehr ist die Bewegung.

„Defences are the movements; organisation is the pattern they form.“
– frei nach Herbert Rosenfeld (1965)

In reifen seelischen Zuständen dienen Abwehrmechanismen dem Schutz des Ichs, ohne die Realität zu zerstören.
In narzisstischen und psychotischen Zuständen jedoch werden Abwehrmechanismen zu einem ganzen System – einer pathologischen Organisation (Rosenfeld, 1971), die sich selbst erhält, indem sie Beziehung und Abhängigkeit ausschließt.


2. Die innere Organisation des Neides

Melanie Klein (1957) beschreibt Neid als den ursprünglichen Angriff auf das Gute Objekt:

„Neid ist das Gefühl, dass das Gute, das der Andere hat und genießt, unerträglich ist, und das Verlangen, es zu zerstören oder zu entleeren.“

Der Neid zerstört das Objekt, bevor es idealisiert oder integriert werden kann. Wenn dieser Mechanismus zur dominanten Weise des Erlebens wird, entsteht eine neidische Organisation:

  • das Subjekt lebt in einer Welt von Objekten, die entweder beraubt oder zerstört werden müssen,

  • Dankbarkeit wird als Schwäche erlebt,

  • Abhängigkeit als Erniedrigung.

Diese Organisation ist kein vorübergehender Abwehrzustand, sondern eine dauerhafte seelische Architektur, die sich selbst stabilisiert:
Jede Erfahrung von Liebe, Fürsorge oder Inspiration wird sofort als Bedrohung des Selbst erlebt – und in Neid transformiert.


3. Die Organisation der Gier

Gier (greed), eng verwandt mit Neid, richtet sich ebenfalls gegen das Objekt, jedoch mit anderer Dynamik.
Während Neid das Gute zerstören will, will Gier es vollständig aneignen.

Bion (1962) beschreibt Gier als eine perverse Form von Lernen:

„Greed attacks the link itself – the connection between subject and object.“

In der gierigen Organisation wird Beziehung nicht mehr als Austausch, sondern als Konsum verstanden. Das Objekt (sei es ein Mensch, Wissen, Liebe oder Deutung) wird benutzt, um ein inneres Loch zu füllen – aber nie wirklich integriert.

So entsteht eine zirkuläre Bewegung: das ständige Verschlingen des Guten, das doch nie sättigt.
Die Abwehr hier ist omnipo­tente Aneignung, das Leugnen jeglicher Abhängigkeit.


4. Organisation vs. Abwehr in der klinischen Situation

Herbert Rosenfeld (1971, 1987) unterscheidet zwischen einer psychotic organization und defensive states.
In der psychotic organization wird das gesamte innere System so ausgerichtet, dass es die Realität des Anderen ausschließt.
In defensive states hingegen tauchen die Mechanismen situativ auf, um bestimmte Ängste zu regulieren.

Ein Beispiel aus der Analyse:
Ein Patient, der jede Deutung mit einem „Ja, aber…“ beantwortet, könnte sich in einer organisierten Form der Abwehrbefinden – ein geschlossenes System, das keine Erkenntnis zulässt.
Hier arbeitet nicht die Abwehr, sondern das System selbst – ein „closed circuit of envy“, wie Simington (1996) es nennt.

„When envy dominates, the personality becomes organized around the destruction of the good. The defence becomes a way of life.“
– Simington, The Analytic Experience (1996)


5. Das Ziel der Analyse: Vom Abwehrsystem zur Organisation des Selbst

In der analytischen Arbeit wird sichtbar, dass Neid und Gier nicht verschwinden – sie werden integriert, wenn sie gedacht werden können.
Die Aufgabe der Analyse ist nicht, den Neid zu moralisch zu bannen, sondern ihn bewusst zu machen, zu betrauern, und dadurch Raum für Dankbarkeit zu schaffen.

Symington (1993) formuliert es so:

„Narcissism is not overcome by denial, but by the discovery that love is possible.“

Die innere Organisation des Selbst wandelt sich, wenn das Subjekt erlebt, dass das Gute Objekt überlebt – trotz Neid, trotz Gier, trotz Zerstörung.
Das bedeutet: Eine neue innere Ordnung kann entstehen, die auf Vertrauen statt auf Kontrolle basiert.


6. Abwehr als Ausdruck, Organisation als Identität

BegriffDynamikFunktionBeispiel
Abwehrkurzfristig, reaktivSchutz vor Angst oder SchuldProjektion, Spaltung, Idealisierung
Organisationdauerhaft, strukturellAufrechterhaltung des psychischen GleichgewichtsNeidische, gierige, paranoide Organisation
TransformationsymbolischIntegration der AffekteDankbarkeit, Reparation, Kreativität

7. Die reifere Organisation: Dankbarkeit

Wenn Neid und Gier nicht mehr den psychischen Haushalt bestimmen, kann das Selbst in einer depressiven Positionverweilen – jener inneren Haltung, in der Trauer und Liebe koexistieren.

Klein (1935) sah in der depressiven Position den Beginn des reifen Ichs:

„Love and hate toward the same object are tolerated, and guilt gives rise to reparation.“

Diese neue Organisation ist keine Abwehr, sondern ein Raum des Denkens.
Bion (1962) nennt sie the capacity for reverie – die Fähigkeit, zu halten, statt zu zerstören.


8. Literaturhinweise

  • Klein, M. (1957). Envy and Gratitude and Other Works 1946–1963. London: Hogarth Press.

  • Rosenfeld, H. (1965). Psychotic States: A Psycho-Analytical Approach. London: Hogarth Press.

  • Rosenfeld, H. (1971). A Clinical Approach to the Psycho-Analytic Theory of the Life and Death Instincts.International Journal of Psycho-Analysis, 52:169–178.

  • Rosenfeld, H. (1987). Impasse and Interpretation. London: Tavistock.

  • Bion, W. R. (1962). Learning from Experience. London: Heinemann.

  • Sigmund-Freud-Vorlesungen. (2025). Neid und Gier. Öffentliche Vorlesung, Wien: Sigmund Freud Gesellschaft.
  • Symington, N. (1993). Narcissism: A New Theory. London: Karnac.

  • Simington, J. (1996). The Analytic Experience: Lectures from the Tavistock. London: Free Association Books.


9. Schlussgedanke

Die innere Organisation ist der unsichtbare architektonische Plan unserer Seele – sie entscheidet, ob wir das Gute im Anderen als Bedrohung oder als Nahrung erleben.
Abwehr ist die Bewegung, mit der wir uns schützen.
Aber wenn der Schutz zum System wird, entsteht eine Organisation des Neides.

Analyse bedeutet dann, langsam jene innere Struktur zu verändern, in der Zerstörung lebendig blieb – hin zu einer Organisation, die Beziehung und Dankbarkeit erträgt.

„Where envy once ruled, gratitude begins to breathe.“

Add a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert