Empathie im klinischen Alltag – Über die emotionale Belastung von Behandler*innen

Psychoanalytische Perspektiven auf Mitgefühl, Übertragung und Burnout in der Medizin

Empathie gilt als Kern ärztlicher und therapeutischer Haltung – als Voraussetzung für Vertrauen, Beziehung und Heilung. Doch gerade im klinischen Alltag, geprägt von Zeitdruck, administrativen Anforderungen und hohen emotionalen Belastungen, kann Empathie zu einer Quelle von Erschöpfung werden. Was als Mitgefühl beginnt, kann in Überforderung, Rückzug oder Zynismus münden. Psychoanalytisch betrachtet, sind solche Phänomene keine Zeichen persönlicher Schwäche, sondern Ausdruck unbewusster Beziehungsdynamiken, die den therapeutischen Raum strukturieren.


Empathie und die Dialektik von Nähe und Distanz

Empathie bedeutet, sich in das Erleben des anderen einzufühlen, ohne die Grenze zum eigenen Selbst zu verlieren. Sie ist kein rein kognitiver Akt, sondern ein affektiver Prozess, in dem das innere Gleichgewicht immer wieder neu ausgehandelt werden muss. In der psychoanalytischen Theorie beschreibt Winnicott (1958) diese Fähigkeit als „capacity to be alone in the presence of another“ – also als die Fähigkeit, mit dem anderen in Beziehung zu sein, ohne sich in ihm zu verlieren.

Im klinischen Setting ist diese Balance fragil. Ärztinnen, Pflegekräfte und Therapeutinnen sind täglich mit Angst, Schmerz, Abhängigkeit und Tod konfrontiert – und zugleich gefordert, handlungsfähig zu bleiben. Wo Distanz zur Selbstschutzstrategie wird, droht Entfremdung; wo Identifikation überwiegt, droht Überwältigung.


Projektive Prozesse und emotionale Ansteckung

Medizinische Beziehungen sind von unbewussten Übertragungen geprägt. Patientinnen projizieren ihre Ängste, Hoffnungen und Aggressionen auf Behandlerinnen, die diese Affekte in sich aufnehmen – oft ohne es zu merken. Diese projektiven Prozesse können heilend sein, wenn sie erkannt und symbolisiert werden; sie können aber auch zu emotionaler Erschöpfung führen, wenn sie unreflektiert bleiben.

Marty (1968) und McDougall (1989) beschrieben, wie Ärzt*innen in psychosomatischen Kontexten häufig als „Container“ fungieren – sie halten die unbearbeitete Angst des Patienten aus, damit dieser nicht dissoziiert oder kollabiert. Wird dieses Halten zu lang oder zu schwer, kann der Behandler selbst psychosomatische Symptome, Gereiztheit oder Erschöpfung entwickeln – ein frühes Stadium des Burnout.


Burnout als Verlust innerer Beweglichkeit

Burnout ist kein bloß arbeitspsychologisches Phänomen, sondern Ausdruck einer tiefen Störung der inneren Beziehungsfähigkeit. In psychoanalytischer Sprache ließe sich sagen: das Selbst wird zu rigide, um affektive Resonanz zuzulassen. Das Gefühl, „auszubrennen“, beschreibt den Verlust jener lebendigen inneren Reaktionsfähigkeit, die Empathie erst möglich macht.

Michael Balint (1957) erkannte früh, dass Ärzt*innen „nicht nur das Medikament verschreiben, sondern selbst eines sind“. Ihre eigene seelische Verfassung beeinflusst das Behandlungsergebnis. Wenn emotionale Resonanz zur Dauerbelastung wird, braucht auch der Behandler ein Gegenüber – etwa in Form von Supervision, kollegialer Fallbesprechung oder Selbsterfahrung.


Die Bedeutung der Gegenübertragung

In der psychoanalytischen Arbeit ist die Gegenübertragung – also das, was Patientinnen im Analytiker emotional auslösen – ein zentrales Erkenntnisinstrument. In der Medizin wird sie selten bewusst reflektiert, obwohl sie im Alltag ständig wirksam ist: Ekel, Ärger, Hilflosigkeit oder übermäßige Fürsorge sind oft unbewusste Reaktionen auf projektive Identifikationen der Patientinnen.

Ein ärztliches Team, das solche Dynamiken versteht, kann Mitgefühl kultivieren, ohne darin zu versinken. Die Fähigkeit, das eigene Erleben als Teil des klinischen Prozesses zu deuten, ist eine Form emotionaler Selbstfürsorge.


Empathie als professionelle Haltung

Empathie bedeutet nicht, alles zu fühlen, sondern das Gefühl zu halten – in sich, für den anderen. Sie ist eine Haltung, die sowohl emotionales Engagement als auch symbolische Distanz erfordert. Psychoanalytisch gesprochen: Sie entsteht im Raum zwischen zwei Subjekten, in dem Affekte zirkulieren, ohne zerstörerisch zu werden.

Wo diese Haltung gepflegt wird, kann auch das System heilsam wirken – für Patientinnen und Behandlerinnen gleichermaßen.


Schlussgedanke

Die emotionale Belastung im klinischen Alltag ist kein Nebenprodukt, sondern integraler Bestandteil der Heilkunst. Sie verlangt nicht nur Wissen, sondern Selbstreflexion. Wenn Ärztinnen, Therapeutinnen und Pflegekräfte ihre eigenen inneren Reaktionen als Teil des Beziehungsfeldes verstehen, wird Empathie zu einer Ressource statt zu einer Gefahr.

Heilung beginnt – auf beiden Seiten – dort, wo Mitgefühl nicht in Erschöpfung, sondern in Verstehen übergeht.


Literaturhinweise:

  • Balint, M. (1957). The Doctor, His Patient and the Illness. London: Pitman.

  • Winnicott, D. W. (1958). The Capacity to Be Alone. International Journal of Psycho-Analysis, 39, 416–420.

  • Marty, P. (1968). La psychosomatique de l’adulte. Paris: PUF.

  • McDougall, J. (1989). Theatres of the Body: A Psychoanalytic Approach to Psychosomatic Illness. New York: Norton.

  • Bion, W. R. (1962). Learning from Experience. London: Heinemann.

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