Die Anatomie der Perversion: Janine Chasseguet-Smirgel und das narzisstische Bedürfnis nach Unbegrenztheit
In der psychoanalytischen Arbeit begegnen wir immer wieder psychischen Strukturen, die sich nicht einfach durch Symptome oder äußeres Verhalten erfassen lassen. Eine dieser Strukturen ist die Perversion – ein Begriff, der oft missverstanden oder vorschnell mit sexuellen Abweichungen gleichgesetzt wird. Die französische Psychoanalytikerin Janine Chasseguet-Smirgel hat in ihrem Werk Die Anatomie der Perversion (The Ego Ideal, 1985) eine umfassende theoretische Grundlage geschaffen, die weit über das rein sexuelle Verständnis hinausgeht. Für sie ist Perversion eine komplexe innere Organisation, die tiefe Einblicke in das menschliche Bedürfnis nach Macht, Illusion und narzisstischer Ganzheit bietet.
Perversion als narzisstische Struktur
Im Zentrum von Chasseguet-Smirgels Theorie steht die Idee, dass die Perversion vor allem eine narzisstische Struktur ist. Der perverse Mensch sehnt sich nicht nur nach Lust, sondern vor allem nach einer Welt, die seinem inneren Bild vollkommen entspricht – einer Welt ohne Einschränkungen, Frustrationen oder Trennungen. Diese Sehnsucht wurzelt tief in der frühen Kindheit, in einer Phase, in der das Kind sich noch mit der mütterlichen Allmacht identifiziert und die Realität als formbar erlebt.
In der gesunden psychischen Entwicklung wird diese Illusion mit der Zeit zugunsten der Anerkennung von Realität, Unterschiedlichkeit und Grenzen aufgegeben. Die Konfrontation mit dem Ödipuskomplex, der Kastrationsangst und dem Über-Ich zwingt das Kind zur inneren Neuordnung. In der perversen Organisation gelingt dieser Übergang jedoch nicht oder nur unvollständig: Die Allmachtsfantasie bleibt bestehen und wird auf Kosten der Realität aufrechterhalten.
Das Ichideal und die Konstruktion einer Ersatzrealität
Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang das, was Chasseguet-Smirgel als pervertiertes Ichideal bezeichnet. Während das Ichideal normalerweise als inneres Leitbild dient – als ein Maßstab für Entwicklung, moralisches Wachstum und Integration – wird es in der Perversion zu einer despotischen Instanz, die jegliche Realität ablehnt, die der eigenen narzisstischen Vorstellung widerspricht.
Diese Form des Ichideals erlaubt es dem Subjekt, eine Ersatzrealität zu konstruieren, in der alles erlaubt scheint, was der Aufrechterhaltung der Illusion dient. Die Realität wird nicht verdrängt – wie etwa in der Neurose –, sondern bewusst verleugnet. Diese Abwehrform, die man als Verleugnung (dénégation) bezeichnet, ist besonders stabil und schwer zu durchbrechen. Der Perversen „weiß“ in gewisser Weise, dass seine Realität nicht die wirkliche ist – entscheidet sich aber aktiv, sie zu ignorieren.
Sexualität als Bühne psychischer Konflikte
Auch wenn sich perverse Strukturen häufig in sexuellen Handlungen ausdrücken, so sind diese nicht der eigentliche Kern des Geschehens. Sexualität wird vielmehr zur Bühne, auf der grundlegende psychische Konflikte inszeniert werden – etwa der Wunsch, das Gesetz zu unterwandern, das Über-Ich zu entmachten oder sich mit der allmächtigen Mutter zu verschmelzen. In dieser Inszenierung ist der „perverse Akt“ oft ein Angriff auf die symbolische Ordnung, ein Akt der Revolte gegen die Realität selbst.
Chasseguet-Smirgel zeigt, dass viele Perversionen auf der Unfähigkeit beruhen, den Anderen als eigenständig und getrennt wahrzunehmen. Stattdessen wird der Andere zum Objekt der eigenen Fantasie degradiert – er soll dienen, bestätigen, verschmelzen. Beziehung wird ersetzt durch Funktion, Symbol durch Materie. In der Sprache der Psychoanalyse könnte man sagen: Das Symbolische wird durch das Imaginäre ersetzt.
Therapeutische Perspektiven
In der psychotherapeutischen Arbeit stellt die perverse Organisation eine besondere Herausforderung dar. Die Festigkeit der Abwehr, die rigide innere Logik und die oft charismatische Selbstinszenierung des Perversen machen es schwer, Kontakt zum wahren Selbst herzustellen. Nicht selten wird auch der Therapeut in eine perverse Dynamik hineingezogen – als Komplize, Objekt oder Gegenspieler.
Eine erfolgreiche Behandlung setzt voraus, dass der/die Therapeut*in klar zwischen Verhalten und Struktur unterscheidet. Es geht nicht darum, das „Symptom“ zu korrigieren, sondern den inneren Konflikt zu verstehen: die Angst vor Ohnmacht, die Abwehr gegen Schuldgefühle, die Weigerung, die Realität in ihrer Begrenztheit anzunehmen.
Die Wiederherstellung eines realitätsbasierten Ichideals, das nicht auf Allmacht, sondern auf Integration und Reifung zielt, ist ein langer Prozess – aber einer, der echte Veränderung möglich macht.
Perversion als kulturelles Phänomen
Bemerkenswert an Chasseguet-Smirgels Theorie ist auch ihr gesellschaftlicher Blick. Sie sieht in der Perversion nicht nur ein individuelles, sondern auch ein kulturelles Phänomen. Gesellschaften, die die Realität zunehmend leugnen – sei es durch Schönheitswahn, Fake News oder totalitäre Ideologien –, bedienen sich ebenfalls einer Art kollektiver Perversion: der aktiven Konstruktion einer Welt, in der das Unangenehme, Begrenzende, Komplexe nicht mehr existieren darf.
In diesem Sinn wirkt ihre Theorie bis heute weiter – als Einladung, nicht nur auf das Symptom zu blicken, sondern auf die psychische Organisation, die dahintersteht.
„Die perverse Struktur bietet eine scheinbare Lösung für das narzisstische Bedürfnis nach Allmacht – doch sie erkauft sich diese Illusion durch die Verleugnung der Realität und die Zerstörung des Anderen als Subjekt.“
— Janine Chasseguet-Smirgel, The Ego Ideal. A Psychoanalytic Essay on the Malady of the Ideal (1985)
Literaturhinweis:
Chasseguet-Smirgel, J. (1985). The Ego Ideal. A Psychoanalytic Essay on the Malady of the Ideal. London: Free Association Books.
Freud, S. (1905). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW V.
Lacan, J. (1957). Die Bedeutung des Phallus. In: Schriften I.
Laplanche, J., & Pontalis, J.-B. (1972). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt: Suhrkamp.