„Deine Suppe ess ich nicht“ – Ein psychoanalytischer Blick auf frühe Autonomie, Trotz und das Ringen um ein eigenes Selbst
Literatur:
Nonn, M. (2022). Deine Suppe ess ich nicht. Trotz, Wut und Autonomie in der frühen Kindheit. München: Kösel.
Wenige Sätze im Alltag von Eltern und Kindern verdichten so präzise die Spannung zwischen Nähe und Abgrenzung wie der im Titel aufgegriffene Ausspruch: „Deine Suppe ess ich nicht.“ Martin Nonn widmet sich in seinem Buch einem Thema, das für die psychoanalytische Entwicklungspsychologie seit jeher von zentraler Bedeutung ist: der Trotzphase. Sie markiert den Moment, in dem das Kind zu begreifen beginnt, dass sein inneres Erleben nicht identisch ist mit dem der Eltern, dass es ein eigenes Selbst besitzt, das sich behaupten und zugleich in Beziehung stehen möchte.
Aus psychoanalytischer Perspektive steht die kindliche Verweigerung symbolisch für einen wesentlichen Schritt in dieser Entwicklung: das Auftauchen des „Nein“ als psychische Funktion. Dieses „Nein“ ist kein bloßer Widerstand, sondern Ausdruck einer tiefgreifenden Reorganisation des Selbst. Nonn zeigt eindrücklich, wie eng in dieser Phase affektive Regulation, Bindungssicherheit und das Erlernen von Autonomie miteinander verwoben sind.
Das „Nein“ als Geburtsmoment des Subjekts
Die klassische psychoanalytische Literatur – von Margaret Mahler über Donald Winnicott bis hin zu Daniel Stern – begreift die Autonomie- und Individuationsphase als eine Schwelle, an der sich das psychische Subjekt erst eindeutig formt. Mahler spricht vom „psychischen Schlüpfen“: Der Prozess, in dem das Kind sich Schritt für Schritt aus der symbiotischen Einheit mit der primären Bezugsperson löst.
Nonn knüpft an diese Tradition an und zeigt, dass kindlicher Trotz nicht Ausdruck einer Störung oder eines Erziehungsproblems ist, sondern vielmehr der notwendige Beweis dafür, dass ein eigenes Selbst im Entstehen ist. Das „Nein“ markiert die Fähigkeit des Kindes, ein erstes eigenes Begehren zu formulieren – manchmal trotzig, manchmal leise, immer aber mit existenzieller Bedeutung.
In psychoanalytischen Begriffen lässt sich sagen:
Im „Nein“ taucht das Subjekt auf – sichtbar, fordernd und verletzlich zugleich.
Der Kampf um die Spielräume des Selbst
Einer der wichtigsten Beiträge Nonns ist seine Sicht auf Begrenzung. Grenzen versteht er nicht als autoritäre Erziehungsmaßnahme, sondern als haltende Funktion im Sinne Winnicotts: ein psychischer Rahmen, der es dem Kind ermöglicht, seine Affekte zu erleben, ohne von ihnen überflutet zu werden.
In dieser Phase wird ständig verhandelt, wo das Kind beginnt und wo es endet. Was darf es bestimmen? Was entscheidet der Erwachsene? Welche Räume sind geteilt, welche sind privat? Diese Aushandlungen erinnern an Winnicotts Konzept des Übergangsraums, also jenes Zwischenbereichs, in dem Kreativität, Selbstgefühl und Spiel entstehen.
In der Trotzphase wird dieser Übergangsraum erweitert, bedroht, neu definiert – ein Prozess, der für das Kind ebenso herausfordernd ist wie für die Eltern.
Wut als Bindungsgeschehen
Besonders wertvoll ist Nonns Darstellung der kindlichen Wut. Er entpathologisiert sie konsequent und beschreibt sie als Versuch, die emotionale Verbindung zur Bezugsperson zu regulieren. Die Wut des Kindes dient nicht der Trennung, sondern der Aufrechterhaltung der Beziehung: Sie ist das Zeichen, dass die Bindung wichtig ist.
Die Psychoanalyse kennt Wut seit jeher als Affekt der Trennung, der gerade deswegen so heftig ausfallen kann, weil in ihm die Beziehung auf dem Spiel steht. Wenn Nonn schreibt, dass Wut ein Beziehungssignal sei, knüpft er an diese Tradition an. Wie die Wut beantwortet wird – ob mit Ruhe, Angst, Gegenaggression oder Beschämung – beeinflusst die spätere Fähigkeit zur Affektregulation, zur Selbstwirksamkeit und zur Wahrnehmung eigener Grenzen.
Die elterliche Gegenübertragung
Für psychoanalytisch Tätige ist besonders spannend, wie Nonn die elterliche Gegenübertragung beschreibt.
Kindlicher Trotz ruft nicht nur pädagogische Reaktionen hervor, sondern berührt unbewusste Szenen: den Wunsch nach Harmonie, die Angst vor Kontrollverlust, die narzisstische Kränkung angesichts eines kindlichen „Nein“.
In der kindlichen Wut werden oft alte Familienskripte reaktiviert, unbewusste Konflikte berührt und intergenerationale Muster wieder lebendig. Nonn zeigt eindrücklich, wie wenig die Trotzphase ein isoliertes kindliches Phänomen ist und wie sehr sie ein Beziehungsgeschehen darstellt, in dem beide Seiten in die eigene Geschichte zurückgeworfen werden.
Das „Nein“ im späteren Leben – Wiederholungsmuster in der analytischen Situation
Für die psychoanalytische Praxis öffnet das Buch wichtige Perspektiven. Frühkindliche Trotz- und Autonomieszenen zeigen sich bei Erwachsenen oft in anderen Formen wieder:
in Beziehungskonflikten, in passiv-aggressiven Mustern, im Rückzug, in Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen oder anzunehmen, in Essstörungen, in Überangepasstheit oder übersteigerter Autonomiebestrebung.
Das Motiv des „Nicht-Nehmens“, „Nicht-Schluckens“ oder „Nicht-Machens“ taucht in vielen analytischen Prozessen auf – oft als Wiederholung jener frühen Szenen, die Nonn so präzise beschreibt.
Die kindliche Suppe, die nicht gegessen werden will, wird so zum Sinnbild jener inneren Dynamik, die später das Erwachsenensein prägt: das Ringen um Selbstbestimmung, um Bindung und um den Wunsch, geliebt zu werden, ohne sich aufzugeben.
Fazit
„Deine Suppe ess ich nicht“ ist ein hochdifferenziertes Buch über die Geburt des Selbst. Es zeigt, wie Trotz, Wut und Autonomie nicht als Krise, sondern als kreative Entwicklungsleistung zu verstehen sind. Nonns Perspektive verbindet moderne Bindungsforschung mit psychoanalytischer Theorie und macht die Trotzphase sowohl für Eltern als auch für Therapeut*innen verständlich und klinisch fruchtbar.
Es ist ein Buch, das uns daran erinnert, dass jeder Mensch – jedes Kind und jeder Erwachsene – sein „Nein“ braucht, um ein „Ich“ zu finden.