Das zerstreute Selbst: Aufmerksamkeit, Fragmentierung und das Problem des inneren Zusammenhalts

Einführung

Menschen mit ADHS erleben sich oft als getrieben, unkonzentriert, innerlich zerrissen. Gedanken springen, Pläne zerrinnen, und selbst einfache Aufgaben verlieren sich im Strudel der Ablenkung.
Was neurobiologisch als Aufmerksamkeitsstörung beschrieben wird, lässt sich psychoanalytisch als Fragmentierung des Selbst verstehen – ein Ich, das seine Energie nicht bündeln, seine Affekte nicht organisieren und seine Aufmerksamkeit nicht halten kann.

Hinter dem Phänomen der Unaufmerksamkeit verbirgt sich oft nicht ein Mangel an Interesse, sondern ein Mangel an innerer Kohärenz.
Das Ich verliert die Fähigkeit, zwischen innen und außen zu unterscheiden, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen – ein Zustand, der ebenso neurobiologisch wie psychodynamisch zu verstehen ist.


Neurobiologische Perspektive: Die Instabilität des präfrontalen Netzwerks

Im Gehirn liegt die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung im sogenannten präfrontalen Cortex, besonders im dorsolateralen und orbitofrontalen Bereich. Diese Strukturen entwickeln sich erst spät – bis weit ins junge Erwachsenenalter hinein.
Bei ADHS zeigt sich hier eine verzögerte oder verminderte Aktivierung.
Barkley (2018) beschreibt das als Defizit der exekutiven Funktionen – jener kognitiven Fähigkeiten, die unser Verhalten strukturieren: planen, priorisieren, erinnern, kontrollieren.

Das Arbeitsgedächtnis – die Fähigkeit, Informationen „online“ zu halten – ist bei ADHS eingeschränkt. Gedanken fallen heraus, bevor sie zu einem kohärenten mentalen Ablauf werden.
Neuropsychologisch gesehen bedeutet das: Das Gehirn springt, um wach zu bleiben.
Psychoanalytisch: Das Ich verliert den roten Faden seines Erlebens.


Das Ich und seine Fragmente: Psychoanalytische Deutung der Zerstreuung

In der psychoanalytischen Sprache könnte man sagen: das Ich hat Mühe, Kontinuität herzustellen – zwischen Affekt, Gedanke und Handlung.
Das Selbstgefühl wird brüchig.
Der berühmte Satz „Ich weiß gar nicht, was ich eigentlich wollte“ beschreibt diesen Verlust an innerer Linie.

Fonagy & Target (2003) sprechen in diesem Zusammenhang von einer inkonsistenten Mentalisierung: Das innere Erleben kann nicht stabil symbolisiert werden. Die Aufmerksamkeit zerfällt, weil das Selbst nicht ausreichend integriert ist.

Man könnte sagen:
Wo andere „abschalten“, um sich zu konzentrieren, muss der ADHSler anschalten, um sich zu spüren.

Diese Übererregung führt jedoch zu einer paradoxen Folge – das Subjekt verliert sich im Strom der Reize, anstatt sich zu verankern. Aufmerksamkeit wird zur Überlebensstrategie, nicht zur bewussten Steuerung.


Das Arbeitsgedächtnis als innerer Raum

In der klassischen Psychoanalyse ist das „innere Denken“ (das innere Sprechen mit sich selbst) eine Funktion des Ichs – eine Form der Selbstbeziehung.
Barkley beschreibt, dass Menschen mit ADHS genau diese innere Sprache oft nur schwach ausgebildet haben.

Sie denken nicht in Sätzen wie:
„Ich sollte erst das fertig machen, dann das.“
Sondern sie handeln, bevor sie denken.

Das Arbeitsgedächtnis – jener mentale Zwischenraum, in dem Affekte und Ideen in Beziehung gesetzt werden – ist also auch ein psychodynamischer Raum.
Er ist dort schwach, wo das Ich noch keine stabile Struktur ausgebildet hat, wo Reize und Impulse das Denken überschwemmen.

Der psychoanalytische Prozess kann hier eine „zweite Bühne“ eröffnen: einen Raum, in dem das Subjekt erlebt, dass Gedanken gehalten werden können – ohne sie sofort in Handlung umzusetzen.


Das zerstreute Selbst als Abwehr gegen Überforderung

Zerstreuung kann auch eine unbewusste Abwehrform sein.
Statt sich mit einem überwältigenden inneren Konflikt zu konfrontieren – z. B. mit Schuld, Angst oder Scham – wird der Geist beschäftigt gehalten: durch ständiges Denken, Tun, Scrollen, Reden.
Die innere Lautstärke schützt vor dem Spüren.

Viele Erwachsene mit ADHS berichten, dass sie „Ruhe nicht aushalten“.
In psychoanalytischer Sprache: Das innere Objekt, die eigene seelische Welt, ist zu beunruhigend, um still zu verweilen.
Unruhe wird zur Abwehr gegen Leere.


Therapeutische Perspektive: Struktur schaffen, um Affekte zu halten

In der analytischen Behandlung zeigt sich, dass die größte Herausforderung nicht das Erkennen, sondern das Halten ist: den Faden, den Affekt, das Thema, den Kontakt.
Der/die Analytiker:in dient dabei als „externer Stirnlappen“ – er/sie hilft, zu ordnen, zu strukturieren, zu erinnern, und damit die exekutiven Funktionen stellvertretend zu stützen.

Im Verlauf der Therapie kann diese äußere Struktur langsam internalisiert werden:
Der Patient entwickelt ein stärkeres inneres „Ich, das ordnet“.

Das Ziel ist weniger Konzentration als Kohärenz: das Erleben, dass Gedanken und Gefühle zusammengehören, dass das eigene Selbst eine Linie hat, auch wenn sie manchmal zittert.


Fazit

Das sogenannte „Aufmerksamkeitsdefizit“ ist – psychoanalytisch betrachtet – kein Mangel an Aufmerksamkeit, sondern eine Überforderung des Ichs, das zu viel wahrnimmt und zu wenig integrieren kann.
Die Herausforderung liegt darin, das Fragmentierte zu verbinden, ohne das Lebendige zu verlieren.

Wenn Neurobiologie und Psychoanalyse sich hier begegnen, zeigt sich ein gemeinsamer Gedanke:
Reifung bedeutet, dass das Gehirn und das Ich lernen, die Welt zu ordnen, ohne sie zu dämpfen.


Literatur

  • Barkley, R. A. (2018). Taking Charge of ADHD: The Complete, Authoritative Guide for Parents. New York: Guilford Press.

  • Fonagy, P. & Target, M. (2003). Psychoanalytic Theories: Perspectives from Developmental Psychopathology.London: Whurr.

  • Bion, W. R. (1962). Learning from Experience. London: Heinemann.

  • Große, G. (2007). Wie Michel aus Lönneberga: Kinder mit ADHS verstehen und fördern. Stuttgart: Klett-Cotta.

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