Das unreife Stirnhirn: Warum Reifung Zeit braucht

Einführung
Wenn man einem Kind mit ADHS beim Spielen, Lernen oder auch beim Wutausbruch zusieht, hat man manchmal das Gefühl, man erlebe zwei Persönlichkeiten zugleich: ein hochintelligentes, neugieriges, blitzschnelles Wesen – und ein impulsives, ungeduldiges, innerlich überflutetes Kind, das scheinbar keine Kontrolle über sich hat. Viele Eltern und Lehrkräfte erleben diesen Widerspruch als Frustration: „Er könnte doch, wenn er nur wollte.“
Doch genau hier liegt das Missverständnis. Bei ADHS geht es nicht um mangelnden Willen, sondern um eine noch nicht ausgereifte Fähigkeit zur Selbststeuerung – neurobiologisch wie auch psychisch.


Das neurobiologische Fundament: Das Stirnhirn reift langsam

Das präfrontale Cortex, jener Teil des Gehirns, der für Impulskontrolle, Aufmerksamkeit, Planung und Selbstreflexion zuständig ist, gehört zu den jüngsten und am spätesten reifenden Strukturen im menschlichen Gehirn.
Studien zeigen, dass bei Menschen mit ADHS die Entwicklung dieser Bereiche um bis zu drei Jahre verzögert sein kann (Barkley, 2018). Das bedeutet: Ein zehnjähriges Kind mit ADHS hat in manchen Bereichen eine Reifung, die eher einem Siebenjährigen entspricht – emotional, motivational, aber auch sozial.

Das Gehirn arbeitet also nicht „falsch“, sondern noch nicht fertig.
Diese biologische Verzögerung zeigt sich in der täglichen Selbstregulation: Affekte werden heftiger erlebt, Impulse schneller ausagiert, Frustration schwerer ertragen.


Vom „Nicht-Wollen“ zum „Nicht-Können“

Im Alltag wird diese Reifungsverzögerung oft als Trotz, Faulheit oder mangelnde Motivation gedeutet. Dabei handelt es sich vielmehr um ein Defizit in der Selbststeuerung, das der bewusste Wille allein nicht kompensieren kann.
Das Kind will sich anstrengen, möchte ruhig bleiben – aber der noch unreife präfrontale Cortex erlaubt in emotional aufgeladenen Situationen keinen Zugriff auf die hemmenden, planenden Funktionen.

Das ist, als würde man von einem Kind verlangen, ein Klavierkonzert zu spielen, bevor es gelernt hat, die Tasten zu lesen.


Psychoanalytische Perspektive: Reifungsverzögerung als Ich-Thema

Auch psychoanalytisch lässt sich ADHS als eine Form von Reifungsverzögerung des Ichs verstehen. Das Ich – jene psychische Instanz, die zwischen inneren Impulsen, Gefühlen und den Anforderungen der äußeren Realität vermittelt – hat in seiner Entwicklung keine ausreichende Stabilität gefunden, um Affekte zu binden und zu modulieren.

Fonagy & Target (2003) beschreiben dies im Kontext der „Mentalisierungsfähigkeit“: die Fähigkeit, innere Zustände als solche zu erkennen, zu symbolisieren und nicht unmittelbar auszuagieren.
Kinder (und Erwachsene) mit ADHS tun sich genau damit schwer: Sie spüren die Spannung, aber sie können sie nicht innerlich halten – also wird sie körperlich, laut, sichtbar.

Das, was neurobiologisch als mangelnde Aktivierung des Stirnhirns beschrieben wird, lässt sich also auch psychodynamisch als unzureichende Affektbindung und Symbolisierungsfähigkeit deuten.


Das unreife Ich zwischen Affektsturm und Selbstvorwurf

Diese Unreife führt zu einer inneren Zerrissenheit:
Viele Betroffene erleben intensive Schuldgefühle – sie wissen, dass sie „anders reagieren sollten“, können es aber in dem Moment nicht.
In der psychoanalytischen Arbeit zeigt sich häufig ein tiefes Gefühl von „Ich bin zu viel“ oder „Mit mir stimmt etwas nicht“.
Das innere Selbstbild bleibt fragil, abhängig von momentanen Erfolgen oder Misserfolgen.

Hier kann die therapeutische Beziehung zu einem korrigierenden Erfahrungsraum werden:
Indem der oder die Analytiker:in den Affekt mitträgt, statt ihn zu disziplinieren, entsteht eine Erfahrung von Halt, die das unreife Ich schrittweise integriert.


Reifung braucht Beziehung und Zeit

Neurobiologisch reift das Stirnhirn durch Wiederholung, Bindung und Regulation – also durch Erfahrung in einem sicheren, strukturierenden Beziehungsrahmen.
Psychoanalytisch gesprochen: Das Ich reift im Übergangsraum zwischen kindlicher Impulsivität und symbolischer Verarbeitung.
Der therapeutische Prozess ermöglicht, dass das Kind (oder der Erwachsene) allmählich lernt, die Spannung zu halten, anstatt sie abzuwehren oder auszuleben.

Reifung bedeutet also nicht Disziplinierung, sondern Integration:
Die Fähigkeit, einen Affekt zu fühlen, ohne ihm ausgeliefert zu sein.


Fazit

ADHS ist weniger ein Zeichen von Unfähigkeit als von Unreife – neurobiologisch wie psychisch.
Das Gehirn braucht Zeit, die Psyche Beziehung.
Wenn wir den Blick von der Kontrolle auf die Entwicklung richten, entsteht Raum für Mitgefühl, Verständnis und Förderung anstelle von Schuld und Kampf.


Literatur

  • Barkley, R. A. (2018). Taking Charge of ADHD: The Complete, Authoritative Guide for Parents. New York: Guilford Press.

  • Fonagy, P. & Target, M. (2003). Psychoanalytic Theories: Perspectives from Developmental Psychopathology.London: Whurr.

  • Große, G. (2007). Wie Michel aus Lönneberga: Kinder mit ADHS verstehen und fördern. Stuttgart: Klett-Cotta.

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