Das Unbewusste im Krankenhaus – Übertragung und Gegenübertragung in medizinischen Settings
Posted On
*Psychoanalytische Perspektiven auf Beziehung, Angst und Identifikation in der Medizin* Das Krankenhaus ist ein Ort der Körper, aber auch ein Ort intensiver seelischer Vorgänge. Kaum ein anderes Setting ruft so unmittelbar existentielle Ängste, Abhängigkeitserfahrungen und Beziehungsmuster hervor. Für Psychoanalytiker*innen wie auch für medizinische Kolleg*innen stellt sich daher die Frage: Welche Rolle spielt das Unbewusste in der Klinik? Und wie beeinflussen Übertragung und Gegenübertragung die Beziehung zwischen Patient*innen, Ärzt*innen und Pflegepersonal? Die Klinik als psychischer Raum Krankenhäuser sind symbolisch aufgeladene Orte. Sie verkörpern zugleich Heilung und Bedrohung, Rettung und Ohnmacht. Der Eintritt ins Krankenhaus bedeutet fast immer einen Verlust an Kontrolle: Der Körper wird Objekt der Untersuchung, der Patient zum „Fall“. Diese Objektivierung aktiviert unbewusst jene frühen Erfahrungen von Ausgeliefertsein, die Freud als „Hilflosigkeit des Säuglings“ beschrieben hat. Das Krankenhaus wird so zu einem Raum, in dem Regression unvermeidlich ist. Krankheit, Schmerz und Abhängigkeit führen zu einer Wiederbelebung früher Beziehungserfahrungen – mit Mutter, Vater, Autorität, Strafe, Fürsorge oder Vernachlässigung. Der Patient bringt seine innere Welt in die Institution mit – und trifft dort auf das Unbewusste derer, die behandeln. Übertragung im medizinischen Feld Im psychoanalytischen Sinn ist Übertragung die Wiederholung vergangener Beziehungserfahrungen in der Gegenwart. In der Klinik zeigt sich Übertragung auf vielfältige Weise: * Der Patient erlebt den Arzt als allwissende, rettende oder strafende Autorität.
* Pflegekräfte werden zu Ersatzmüttern, die Halt geben oder enttäuschen.
* Der Körper des Patienten wird zur Bühne, auf der unbewusste Konflikte zwischen Kontrolle und Hingabe, Abhängigkeit und Autonomie, Leben und Tod ausgetragen werden. Diese Dynamiken verlaufen oft unbewusst, bestimmen aber wesentlich den Verlauf einer Behandlung. Ein Beispiel: Ein Patient, der sich von medizinischem Personal „nicht ernst genommen“ fühlt, könnte unbewusst eine alte Erfahrung der Missachtung wiederholen. Der Ärztin wiederum kann diese Reaktion das Gefühl vermitteln, „nie genug“ tun zu können – eine Gegenübertragung, die leicht zu Erschöpfung oder Distanzierung führt. Gegenübertragung – das Unbewusste der Behandelnden Michael Balint (1957) betonte in seiner Arbeit mit Ärzt*innen, dass die Reaktionen der Behandelnden nicht bloß rational oder fachlich sind, sondern tief von ihrer eigenen emotionalen Geschichte geprägt. Er sprach vom „Arzt als Arznei“ – das heißt: die Persönlichkeit, die Haltung, das emotionale Resonanzvermögen der Ärztin oder des Arztes wirken heilend oder störend, je nachdem, wie bewusst sie ihrer eigenen Gegenübertragung sind. In der Klinik kann Gegenübertragung vielfältig auftreten: **Retterfantasien** („Ich muss diesen Menschen um jeden Preis heilen“)
**Abwehr von Angst durch Überaktivität oder Zynismus**
**Identifikation mit der Hilflosigkeit des Patienten**
**Abspaltung von Schuldgefühlen durch Rationalisierung** Donald Winnicott (1947) betonte die Bedeutung eines „haltenden Umfelds“ (*holding environment*) – auch für das Behandlungsteam selbst. Wo das institutionelle Setting Überforderung, Zeitdruck und Schuldgefühle erzeugt, kann es den inneren Halteraum der Behandelnden schwächen. Psychoanalytische Supervision oder Balint-Gruppen ermöglichen, solche Übertragungsprozesse zu erkennen, ohne sie acting-out zu leben. Institutionelle Abwehrmechanismen Krankenhäuser selbst entwickeln psychische Abwehrformen – Strukturen, die kollektive Angst und Hilflosigkeit abwehren. Menzies Lyth (1960) zeigte, wie Arbeitsorganisation, Routinen und Hierarchien als institutionelle Abwehr dienen: Sie schützen das Personal vor Überflutung durch die Angst vor Leid, Tod und Schuld. So wird Distanz erzeugt, wo Nähe seelisch schwer auszuhalten wäre. Diese institutionellen Abwehrmechanismen sind notwendig, aber sie können auch Entfremdung schaffen – zwischen Ärztin und Patient, Pflegekraft und Körper, Mensch und Maschine. Eine psychoanalytische Haltung im Krankenhaus bedeutet daher nicht, „Therapie“ zu machen, sondern den Raum des Unbewussten mitzudenken – als Dimension, die alle Beteiligten betrifft. Eine Haltung des Verstehens Das Unbewusste im Krankenhaus zu berücksichtigen heißt, die menschliche Dimension der Medizin ernst zu nehmen. Es geht um die Anerkennung, dass jede Begegnung – auch die scheinbar technische – Beziehung ist. Psychoanalytisches Denken kann in diesem Kontext ein gemeinsames Vokabular schaffen: für Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Pflegekräfte und Sozialarbeiter*innen, die in einer geteilten Realität von Abhängigkeit, Angst und Hoffnung arbeiten. Es bietet keine Rezepte, aber eine Haltung – eine, die das Unbewusste nicht als Störung, sondern als Mitspieler versteht. Literaturhinweise: Balint, M. (1957). *The Doctor, His Patient and the Illness.* London: Pitman Medical.
Freud, S. (1912). *Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung.* GW VIII.
Menzies Lyth, I. (1960). *A Case-Study in the Functioning of Social Systems as a Defence Against Anxiety.* *Human Relations*, 13(2), 95–121.
Winnicott, D. W. (1947). *Hate in the Counter-Transference.* *International Journal of Psycho-Analysis*, 30, 69–74.
Winnicott, D. W. (1960). *Ego Distortion in Terms of True and False Self.* In: *The Maturational Processes and the Facilitating Environment.* London: Hogarth Press, 1965. Das Unbewusste ist im Krankenhaus stets anwesend – in Blicken, Gesten, Schweigen. Es verbindet und trennt zugleich, heilt und verletzt. Es zu erkennen heißt, der Medizin ihre menschliche Tiefe zurückzugeben.*
Ähnliche Beiträge:
- Innere Organisation und Abwehr: Über die psychische Architektur von Neid und Gier
- „You Are Not I“ – Neid, Gier und die Zersetzung der inneren Welt
- The Seven Deadly Sins: A Psychoanalytic Perspective on Human Struggles
- 📱 Zwischen Nähe und Leere: Eine psychoanalytische Perspektive auf Handysucht und Computerspielsucht