„Das Nein am Esstisch“ – Warum Essen zu einem Schauplatz früher Autonomie wird
Ein psychoanalytischer Blick auf ein Unterkapitel aus Martin Nonns „Deine Suppe ess ich nicht“
Literatur:
Nonn, M. (2022). Deine Suppe ess ich nicht. Trotz, Wut und Autonomie in der frühen Kindheit. München: Kösel.
Einführung: Der Esstisch als Bühne des frühen psychischen Lebens
In einem der eindrucksvollsten Unterkapitel seines Buches widmet sich Martin Nonn der Frage, warum gerade beim Essen so häufig dramatische Trotz- und Autonomieszenen entstehen. Der Esstisch, so zeigt er, ist nicht einfach ein Ort der Nahrungsaufnahme – er ist ein symbolisch aufgeladener Raum, in dem Beziehung, Fürsorge, Grenzen und frühe Identitätsbildung miteinander in Kontakt treten.
Das kindliche „Nein“ zum Essen wird hier nicht als Problem, sondern als Kommunikationsversuch verstanden: ein Versuch des Kindes, inneres Erleben mitzuteilen, Handlungsspielräume zu testen und im Gegenüber ein Echo seiner Affekte zu finden.
Essen als frühe Beziehungssprache
Die Psychoanalyse hat Essen immer schon als einen der ersten Beziehungskanäle verstanden.
Bei Freud taucht das Nahrungsgeben als erstes Objektverhältnis auf.
Winnicott beschreibt die Fütterung als „holding in action“ – als den Moment, in dem emotionale und körperliche Versorgung zusammenfallen.
Mahler betont die Bedeutung der frühen Mahlzeiten für die Herausbildung eines stabilen Selbst.
Nonn knüpft daran an und zeigt, dass das Essverhalten des Kindes niemals nur physiologisch ist. Es ist eine Sprache des Selbst.
Wenn ein Kleinkind sagt:
„Deine Suppe ess ich nicht“,
dann sagt es – psychologisch gelesen – oft zugleich:
„Ich bin ich. Ich bestimme. Ich fühle anders als du.“
Das Nein als Regulierung des inneren Raums
Ein Kernpunkt dieses Unterkapitels ist Nonns Darstellung der Affektregulation. Das Ablehnen des Essens entsteht häufig dann, wenn die inneren Spannungen des Kindes den äußeren Rahmen übersteigen.
Das Kind signalisiert:
„Es ist mir zu viel.“
„Ich bin überfordert.“
„Ich brauche Abstand, um wieder in mir selbst anzukommen.“
Das „Nein“ ist also kein Machtkampf, sondern eine Selbstschutzfunktion.
Nonn zeigt damit, dass kindliche Autonomie nicht gegen Beziehung gerichtet ist, sondern durch Beziehung erst ermöglicht wird. Eltern, die das Nein halten, benennen und nicht beschämen, schaffen jene psychische Sicherheit, die das Kind letztlich wieder in eine kooperative Haltung zurückführt.
Übertragung und Gegenübertragung: Warum Eltern so stark reagieren
Ein besonders berührender Abschnitt des Unterkapitels widmet sich der elterlichen Gegenübertragung.
Die Verweigerung am Esstisch kann bei Eltern intensive Gefühle auslösen:
Ärger („Wie kann das Kind so undankbar sein?“)
Angst („Bekommt es genug?“)
Ohnmacht („Ich erreiche es nicht.“)
Kränkung („Ich habe mir Mühe gegeben, und es lehnt mich ab.“)
Nonn macht verständlich, dass diese Reaktionen selten etwas mit der aktuellen Situation zu tun haben, sondern häufig alte Familienszenen reaktivieren:
Das Gefühl, nicht gehört worden zu sein.
Der Wunsch nach Harmonie, der schnell kippt.
Intergenerationale Konflikte um Kontrolle, Fürsorge oder Anpassung.
Der Esstisch wird so zu einem Schauplatz der Familiengeschichte.
Der Konflikt um Autonomie – eine frühe, kreative Leistung
Nonn beschreibt, wie das Kind im Widerstand eine neue Form der Subjektivität erprobt. Es stellt die implizite Frage:
„Wo endest du, und wo beginne ich?“
Das Essen ist ein symbolischer Ort, an dem das Kind erlebt:
Prüfen darf ich.
Regulieren darf ich.
Wählen darf ich.
Nein sagen darf ich.
Die Verweigerung erscheint damit nicht als Störung, sondern als wichtiger Baustein des Selbstgefühls.
Therapeutische Perspektive: Das Muster setzt sich fort
Für die psychoanalytische Arbeit öffnet dieses Unterkapitel einen faszinierenden Blick auf spätere Lebensphasen. Viele erwachsene Patient*innen reproduzieren unbewusst jene frühen Essen-Szenen:
Sie verweigern Erwartungen anderer – subtil oder offen.
Sie halten Kontrolle über sich selbst durch Ablehnung statt Kooperation.
Sie pendeln zwischen Autonomie und Abhängigkeit, oft mit Schuldgefühlen.
In Essstörungen zeigt sich das Motiv des „Nicht-Nehmens“ in radikalisierter Form.
Die Suppe, die nicht gegessen wird, wird zum Sinnbild für die unbewussten Szenen, in denen Autonomie gegen Beziehung ausgespielt wird – oder neu verhandelt werden muss.
Fazit: Warum dieses Unterkapitel so wertvoll ist
Nonn gelingt es, einen alltäglichen Moment – das Kind, das die Suppe verweigert – psychoanalytisch tief zu beleuchten. Er zeigt, dass symbolische Bedeutung in jeder familiären Mikroszene steckt.
Das Unterkapitel macht deutlich:
Trotz ist Entwicklung, kein Störfaktor.
Verweigerung ist Kommunikation.
Autonomie entsteht im Gegenüber.
Essen ist Beziehung – immer.
Für Elternberatung, Psychotherapie und Psychoanalyse bietet dieses Kapitel einen präzisen und gleichzeitig empathischen Zugang zu einer Phase, in der das Selbst eines Kindes zum ersten Mal tastend Form annimmt.