ADHS & Psychoanalyse – kann das funktionieren?

Einleitung: Mythos oder Möglichkeit?

ADHS wird häufig als neurobiologische Störung verstanden, die sich durch Impulsivität, Aufmerksamkeitsdefizite und emotionale Dysregulation äußert. Psychoanalyse hingegen konzentriert sich traditionell auf unbewusste Konflikte, Affektregulation, Selbstwert und Beziehungsmuster. Auf den ersten Blick scheinen beide Welten weit auseinander zu liegen. Doch bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass psychoanalytische Arbeit für Menschen mit ADHS nicht nur möglich, sondern auch bereichernd sein kann.


Herausforderungen in der psychoanalytischen Arbeit mit ADHS

  1. Aufmerksamkeitsdefizite: Klassische längere Sitzungen können für Betroffene schwierig sein; das Arbeitsgedächtnis ist oft eingeschränkt, was längere Assoziationsketten erschwert.

  2. Impulsivität: Spontane Unterbrechungen, Abweichungen vom Thema oder emotionale Ausbrüche können den traditionellen Analysefluss stören.

  3. Emotionale Dysregulation: Schnelle Affektwechsel und geringe Frustrationstoleranz erfordern von der Therapeut*in besondere Sensibilität und Flexibilität.

Psychoanalytisch betrachtet sind diese Symptome nicht nur „Störungen“, sondern Ausdruck einer Ich-Struktur, die Affekte, Impulse und Handlungen noch nicht ausreichend regulieren kann (Fonagy & Target, 2003).


Psychoanalytische Potenziale für ADHS

Trotz der Herausforderungen bietet die Psychoanalyse spezifische Chancen:

  • Affektintegration: Durch das Erkennen, Benennen und Spiegeln von Emotionen lernen Betroffene, innere Zustände zu verstehen und zu regulieren.

  • Selbstwertstärkung: Übertragungs- und Gegenübertragungsarbeit ermöglicht es, das fragile Selbst zu stabilisieren und internalisierte Scham oder Selbstabwertung zu bearbeiten.

  • Reflexion von Handlungsmustern: Impulsives Verhalten kann im therapeutischen Setting analysiert werden, um wiederkehrende Konflikt- und Beziehungsmuster zu erkennen.

  • Individuelle Anpassung: Flexible Sitzungsformate, kürzere Intervalle oder Integration von psychoedukativen Elementen können ADHS-spezifische Bedürfnisse berücksichtigen.


Praktische Umsetzung

  1. Therapieform und Sitzungsrhythmus anpassen: Kürzere oder flexibel gestaltete Sitzungen, kombinierte Einzel- und Gruppenformate, ggf. gezielte Pausen für emotionale Verarbeitung.

  2. Psychoedukation einbinden: Verständnis der neurobiologischen Basis von ADHS entlastet und schafft Reflexionsfähigkeit.

  3. Beziehung als Ressource nutzen: Therapeutin dient als Spiegel, Halt und Feedbackgeberin – besonders wichtig für die Regulation von Affekten und Selbstwert.

  4. Integration multimodaler Ansätze: Psychoanalyse kann sinnvoll mit Coaching, Verhaltenstechniken oder medikamentöser Behandlung kombiniert werden, um Funktionsfähigkeit und Lebensqualität zu verbessern.


Fazit: ADHS und Psychoanalyse

ADHS ist nicht der Grund, warum Psychoanalyse „nicht funktionieren“ sollte. Vielmehr erfordert die Arbeit mit ADHS-Betroffenen Anpassung, Flexibilität und Verständnis für neurobiologische und psychodynamische Dynamiken. Psychoanalyse kann helfen, Impulse zu verstehen, emotionale Regulation zu fördern und Selbstwert sowie Identität nachhaltig zu stabilisieren.

Für Erwachsene mit ADHS bietet sie somit die Möglichkeit, nicht nur Symptome zu managen, sondern die eigene Ich-Struktur zu stärken und ein reflektiertes, selbstwirksames Leben zu entwickeln.


Literatur

  • Barkley, R. A. (2016). ADHD in Adults: What the Science Says. Guilford Press.

  • Fonagy, P., & Target, M. (2003). Psychoanalytic Theories: Perspectives from Developmental Psychopathology. Whurr Publishers.

  • Kohut, H. (1977). The Restoration of the Self. International Universities Press.

  • Henseler, M. (2020). Burnout – Eine psychoanalytische Betrachtung. Psychosozial-Verlag.

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