ADHS, Motivation und Identitätsentwicklung bei Jugendlichen und Erwachsenen
Einleitung: Übergang ins Jugend- und Erwachsenenalter
Mit der Pubertät und dem Übergang ins Erwachsenenalter verändern sich die Herausforderungen bei ADHS grundlegend. Die neurobiologische Reifung schreitet fort, aber Dysfunktionen des Stirnhirns und der präfrontalen Areale bleiben oft spürbar. Impulsivität, emotionale Dysregulation und Zeitblindheit bestehen weiter, während gleichzeitig die Anforderungen an Selbstorganisation, Motivation und Selbstwerterleben steigen.
ADHS ist nicht nur eine „Aufmerksamkeitsstörung“ – es beeinflusst die Entwicklung von Identität, Autonomie und Lebensgestaltung.
Motivation: Intrinsisch versus extrinsisch
Jugendliche und Erwachsene mit ADHS zeigen oft ein ambivalentes Motivationsprofil:
Intrinsische Motivation: Starke Interessen oder Hyperfokus ermöglichen außergewöhnliche Leistungen, oft weit über den Durchschnitt hinaus.
Extrinsische Motivation: Strukturelle Vorgaben, Leistungsdruck oder externe Anweisungen werden häufig als belastend erlebt; fehlende unmittelbare Belohnung führt zu Aufschub oder Vermeidung.
Die psychoanalytische Perspektive interpretiert dies als Ausdruck eines Ich, das die Regulation von Affekten und Handlungen noch nicht vollständig internalisiert hat. Motivation hängt eng mit dem eigenen Selbstwertgefühl zusammen: Wer sich als unfähig erlebt, wird leichter frustriert und meidet Herausforderungen, selbst wenn Fähigkeiten vorhanden sind.
Identitätsentwicklung: Vom „nicht können“ zum Selbstverständnis
Die Identitätsentwicklung bei ADHS ist eng mit Selbstwahrnehmung, sozialen Erfahrungen und Erfolgserlebnissen verknüpft:
Jugendliche spüren die Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität, zwischen Selbstbild und externen Erwartungen.
Chronische Überkompensation und Vergleich mit Peers können zu einem instabilen Selbstwert führen.
Positive Erfahrungen, Lob, Struktur und gelingende soziale Beziehungen sind entscheidend, um eine kohärente Identität zu entwickeln.
Psychoanalytisch betrachtet werden durch gelingende Beziehungserfahrungen, Spiegelung und empathische Unterstützung innere Ich-Strukturen stabilisiert. Jugendliche lernen, ihre Impulse zu verstehen, zu regulieren und als Teil ihres Selbst zu integrieren.
Praktische Aspekte: Strategien für Alltag und Therapie
Struktur und Planung: Nutzung von Kalendern, Checklisten, Erinnerungshilfen, um Motivation und Selbstorganisation zu unterstützen.
Interessenbasierte Motivation: Aufgaben und Berufswahl an intrinsischen Interessen ausrichten. Hyperfokus als Ressource nutzen.
Selbstreflexion und Psychoedukation: Verstehen der eigenen Stärken, Grenzen und typischen ADHS-Dynamiken.
Therapeutische Begleitung: Psychoanalytische oder psychodynamische Therapie kann helfen, Impulse, Affekte und Selbstwert zu integrieren.
Barkley (2016) hebt hervor, dass Erwachsene mit ADHS oft erst durch gezieltes Coaching und therapeutische Unterstützung lernen, ihre Ressourcen zu erkennen und effektiv einzusetzen.
Jugendliche, Schule und Berufsleben
Jugendliche mit ADHS profitieren besonders von individualisierten Lernstrategien, klaren Routinen und strukturierter Rückmeldung.
Erwachsene mit ADHS benötigen oft Unterstützung bei Zeitmanagement, Prioritätensetzung und Selbstorganisation im Berufsleben.
Identitätsentwicklung und berufliche Orientierung hängen eng mit Selbstwirksamkeit und Erfolgserlebnissen zusammen: Wer wiederholt scheitert, internalisiert schnell ein negatives Selbstbild.
Fazit: ADHS als Chance zur Selbstentwicklung
ADHS beeinflusst Motivation, Selbstregulation und Identitätsentwicklung. Die psychoanalytische Perspektive zeigt: Wer Impulse, Affekte und Selbstwert in einem haltenden Umfeld reflektieren kann, entwickelt Strategien, um Herausforderungen zu meistern und Ressourcen zu entfalten.
ADHS ist somit nicht nur eine Belastung – sondern eine Entwicklungsaufgabe, deren erfolgreiche Bewältigung zur Selbstwerdung, Stärkung der Autonomie und Entfaltung individueller Potenziale führt.
Literatur
Barkley, R. A. (2016). ADHD in Adults: What the Science Says. Guilford Press.
Henseler, M. (2020). Burnout – Eine psychoanalytische Betrachtung. Psychosozial-Verlag.
Kohut, H. (1977). The Restoration of the Self. International Universities Press.
Fonagy, P., & Target, M. (2003). Psychoanalytic Theories: Perspectives from Developmental Psychopathology. Whurr Publishers.
Lindgren, A. (1963). Michel aus Lönneberga. Rabén & Sjögren.