ADHS – Lost, Late, and Unprepared: Ein psychoanalytischer Blick auf die Unruhe des Stirnhirns

ADHS ist längst kein Randphänomen mehr. Doch noch immer wird es häufig missverstanden – als Erziehungsproblem, als Modediagnose, als Ausdruck mangelnder Disziplin. Psychoanalytisch betrachtet ist ADHS ein komplexes Zusammenspiel von neurobiologischer Reifungsverzögerung, affektiver Dysregulation und einer spezifischen seelischen Struktur, die den Menschen zugleich verletzlich und außergewöhnlich lebendig macht.

Das unreife Stirnhirn – wenn die Zeit zu früh zu schnell läuft

Neurowissenschaftlich wissen wir heute, dass bei ADHS bestimmte Regionen im präfrontalen Cortex – dem sogenannten Stirnhirn – weniger aktiv und in ihrer Reifung verzögert sind. Genau dort aber sitzen jene Funktionen, die uns helfen, Impulse zu bremsen, Handlungen zu planen und Emotionen zu regulieren. Man könnte sagen: das Stirnhirn ist das seelische „Ich-Feld“, das dafür sorgt, dass Affekte, Wünsche und Impulse miteinander ins Gespräch kommen.

Bei ADHS ist dieses Gespräch oft zu laut, zu schnell, zu unkoordiniert. Kinder mit ADHS sind häufig emotional jüngerals Gleichaltrige. Ein 17-Jähriger, der zu Weihnachten noch Lego wünscht oder am Abend mit der Mutter kuscheln möchte, erlebt in sich einen Widerspruch: Sein Körper ist jugendlich, seine Affekte sind kindlich. Diese Diskrepanz ist kein Mangel an Reife im moralischen Sinn, sondern Ausdruck einer entwicklungsneurologischen Verzögerung – die zugleich tief in der emotionalen Erfahrung verankert ist.

Reizoffenheit und Filterschwäche

ADHS-Menschen sind reizoffen, oft mit einer verminderten Filterleistung. Sie nehmen viel wahr – zu viel. Jede Kleinigkeit kann Aufmerksamkeit binden: die Frisur der Lehrerin, ein Geräusch, ein Lichtreflex. In einer reizintensiven Umgebung – etwa einer Schulklasse – wird diese Offenheit zur Qual. Während andere fokussieren, verlieren sie den roten Faden. Das Zappeln, die Bewegung, das permanente Dazwischensprechen sind keine Boshaftigkeit, sondern ein Versuch, Wachheit zu erzeugen, um den eigenen Fokus zu halten.

Medikamente wie Methylphenidat erweitern die Aufmerksamkeitsspanne, indem sie das dopaminerge System stabilisieren – sie dämpfen nicht, sie ermöglichen Selbststeuerung, wo sonst Übererregung herrscht.

Das gestörte innere Sprechen

Ein zentrales psychoanalytisches Phänomen ist das innere Sprechen – die Fähigkeit, sich selbst zu instruieren, zu erinnern, zu bremsen. Menschen mit ADHS fehlt dieses innere Begleiten oft. Wo wir innerlich sagen: „Ich muss noch Wäsche waschen“, „Ich warte, bis der andere an der Kassa fertig ist“, entsteht bei ihnen ein Impuls ohne Vermittlung. Die Bremse des Ichs greift zu spät oder gar nicht.

Sie handeln spontan, bereuen sofort, sind emotional durchlässig. Das führt zu Scham, zu einem Gefühl des Andersseins – und zu einem oft tiefen, verborgenen Minderwertigkeitsgefühl. Nicht selten entwickeln sie eine unbändige Gerechtigkeitssensibilität, weil sie selbst so oft das Gefühl haben, unfair beurteilt zu werden.

Emotional dysreguliert – die kurze Zündschnur

Die emotionale Dysregulation ist das Herzstück der ADHS-Symptomatik. Wutanfälle, plötzliche Zusammenbrüche, extremes Weinen, intensive Freude – alles ist stärker, unmittelbarer, weniger moduliert. Die Amygdala, der Mandelkern, reagiert schneller, bevor das Stirnhirn evaluieren kann. Der Impuls „Ich mag das nicht“ wird zur totalen Ablehnung; „Der Lehrer ist blöd“ wird zum Affektsturm.

Während neurotypische Menschen eine Reiz-Reaktionskurve haben, die ansteigt und langsam wieder abflacht, erleben ADHS-Betroffene eine Wutexplosion – plötzlich, intensiv, und dann ebenso schnell wieder vorbei. Doch das Umfeld ist oft noch im Schockzustand, wenn der ADHS-Mensch schon wieder ruhig ist.

Planlosigkeit und das verlorene Zeitgefühl

Viele Eltern erleben, dass ihre Kinder „einfach nicht lernen“. Doch dahinter liegt kein Trotz, sondern ein gestörtes Zeitgefühl. Wenn der Bus um 16:10 fährt, reicht es nicht, um 16:09 loszugehen – doch das ist für ADHS-Menschen keine Selbstverständlichkeit. Planung, Priorisierung, Erfahrungslernen – all das sind exekutive Funktionen, die im präfrontalen Kortex verankert sind.

Auch Erwachsene kämpfen damit: zu spät kommen, Termine vergessen, Projekte beginnen und nicht beenden. Die To-Do-Liste wird zum Feindbild. Was fehlt, ist nicht Intelligenz, sondern Strukturierungsfähigkeit.

Von der Hyperaktivität zur inneren Unruhe

Im Jugend- und Erwachsenenalter wandelt sich ADHS: die motorische Unruhe wird innerlich. Statt zu zappeln, kreisen die Gedanken, rasen die Impulse. Viele kompensieren mit Leistung, andere mit Alkohol, Cannabis oder exzessivem Arbeiten. Nicht selten entwickeln sie Burnout-ähnliche Zustände, weil sie unermüdlich versuchen, das Defizit an innerer Ordnung durch äußere Aktivität auszugleichen.

Schlafprobleme, Überforderung, Energiemangel und ein negatives Selbstbild begleiten diese Menschen – bei gleichzeitigem Charme, Witz und oft erstaunlicher Kreativität.

Der Hyperfokus – die andere Seite der Medaille

Psychoanalytisch interessant ist der Hyperfokus: Wenn etwas wirklich interessiert, kann der ADHS-Mensch völlig darin aufgehen. Zeit und Raum verschwinden, das Ich verschmilzt mit der Aufgabe. Das, was sonst fehlt – Konzentration, Ausdauer, Selbststrukturierung – wird plötzlich verfügbar. Es ist, als würde ein innerer Schalter umgelegt. Diese Fähigkeit kann zur Ressource werden, wenn sie verstanden und gezielt genutzt wird.

Michel aus Lönneberga – das verlorene Kind im Dorf

Astrid Lindgrens „Michel“ ist vielleicht die schönste literarische Metapher für ADHS. Ein Kind voller Energie, Ideen, Einfälle – oft zum Leidwesen der Erwachsenen, die seine Vitalität als Boshaftigkeit deuten. Doch Michel ist nicht böse. Er ist neugierig, kreativ, leidenschaftlich. Er braucht ein Dorf, das ihn versteht.

„Ein Nicht-Wollen ist meist ein Nicht-Können“ – das ist der Schlüssel. Psychoedukation, Struktur, Bewegung, positive Rückmeldungen, klare, aber liebevolle Grenzen – das sind die Säulen jeder Therapie. Lob, indirektes positives Feedback („Ich hab gehört, du hast das heute toll gemacht“) und spielerische Motivation („Catch them being good“) schaffen jene dopaminerge Belohnung, die im Gehirn fehlt.

Vom Defizit zum Potenzial

ADHS ist kein Mangel an Intelligenz, sondern ein anderer Modus der seelischen Organisation. Es ist das Leben mit einem offenen Filter, mit einer ungebändigten Energie, mit einem empfindsamen inneren Kind, das nie ganz erwachsen werden will.

Psychoanalytisch gesehen, ist ADHS auch eine Störung der Ich-Funktion – aber in diesem Ich steckt eine enorme Lebendigkeit, Kreativität und Authentizität. Aufgabe der Behandlung ist es, diese Energie zu kanalisieren, ohne sie zu zerstören.


Literatur & Ressourcen:

  • Barkley, R. A. (2018). Taking Charge of ADHD.

  • Auer, M. & Zimmermayr, E.-M. (2022). ADHS-Training und Supervision.

  • Große, G. (2007). Wie Michel aus Lönneberga. Hyperaktive Kinder verstehen lernen.

  • Soden, S. (2019). Ich muss nicht wütend sein – Das Mitmachbuch für Kinder.

  • Hoopmann, K. (2008). All Dogs Have ADHD.

  • Leitlinie ADHS, S3 (2022).

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