ADHS im Erwachsenenalter – wenn die innere Unruhe erwachsen wird

Einleitung: Vom Kind zum Erwachsenen mit ADHS

ADHS wird oft als Kindheitsstörung wahrgenommen, doch die Symptome begleiten viele Betroffene bis ins Erwachsenenalter. Während sich die äußere Hyperaktivität häufig abschwächt, bleiben innere Unruhe, Impulsivität, emotionale Dysregulation und Schwierigkeiten in Selbstorganisation und Zeitmanagement bestehen.

Für Erwachsene bedeutet ADHS nicht nur anhaltende Herausforderungen im Berufs- und Privatleben, sondern auch eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Selbstwert, Motivation und Lebensplanung.


Innere Unruhe: Motorik, Aufmerksamkeit und Affekte

Im Erwachsenenalter zeigt sich die Unruhe häufig subtiler, aber genauso belastend:

  • Motorische Unruhe: Statt sichtbarem Zappeln äußert sie sich in Nervosität, Unruhe im Sitzen, häufigem Wechsel von Aufgaben oder Tätigkeiten, und dem Bedürfnis, permanent aktiv zu sein.

  • Aufmerksamkeitsdefizite: Das Arbeitsgedächtnis bleibt oft eingeschränkt, was Konzentration, Multitasking und Prioritätensetzung erschwert.

  • Emotionale Dysregulation: Affektlabilität, schnelle Gereiztheit, Impulsivität in Entscheidungen und Konflikten – ein emotionales „Hoch und Runter“, das das Selbst- und Fremdbild prägt.

Die psychoanalytische Perspektive zeigt, dass die innere Unruhe nicht nur ein biologisches Symptom ist, sondern Ausdruck eines Ich, das noch immer Affekte regulieren, innere Spannungen halten und Impulse modulieren lernen muss.


Selbstorganisation und Zeitmanagement

Erwachsene mit ADHS kämpfen oft mit den alltäglichen Anforderungen:

  • Zeitblindheit: Schwierigkeiten, Zeit realistisch einzuschätzen, zu planen und einzuhalten.

  • Aufschieben und Priorisierung: Trotz guter Absichten wird Wichtigeres oft verschoben, während Dringliches kurzfristig bearbeitet werden muss.

  • Überlastung und Burnout: Permanenter Druck, Erwartungen zu erfüllen, führt zu Überkompensation, Erschöpfung und chronischem Stress.

Barkley (2016) betont, dass ADHS im Erwachsenenalter eine neurobiologische Grundlage hat, die das Selbstmanagement erschwert – die Lösung liegt jedoch in einer Kombination aus Therapie, Struktur und Selbststrategien.


Affekte, Selbstwert und Beziehung

Emotionale Dysregulation wirkt sich auf Selbstbild und Beziehungen aus:

  • Scham und Selbstabwertung: Erwachsene mit ADHS erleben häufig das Gefühl, „hinterherzuhinken“ oder Erwartungen nicht zu genügen.

  • Überkompensation: Permanente Anpassung an äußere Anforderungen, Perfektionismus und Leistungsdruck.

  • Beziehungen: Impulsives Verhalten und emotionale Schnellschüsse können Partnerschaften, Freundschaften und berufliche Netzwerke belasten.

Psychoanalytisch betrachtet sind diese Muster Ausdruck eines fragilen Selbst, das Stabilisierung durch Spiegelung, Anerkennung und empathische Beziehung benötigt (Kohut, 1977).


Strategien für den Alltag

Für Erwachsene mit ADHS ist es entscheidend, neurobiologische, psychologische und soziale Aspekte zu verbinden:

  1. Struktur schaffen: Kalender, To-Do-Listen, Erinnerungen und Routinen erleichtern Selbstorganisation.

  2. Psychoedukation: Verständnis der eigenen ADHS-Dynamik reduziert Selbstvorwürfe.

  3. Therapie: Psychodynamische und kognitive Ansätze helfen, Affekte zu regulieren, Impulse zu verstehen und Selbstwert zu stabilisieren.

  4. Medikation: Bei Bedarf können Stimulanzien (z. B. Methylphenidat) die Aufmerksamkeit steigern und die innere Unruhe regulieren.

  5. Selbstfürsorge: Bewegung, Schlafhygiene, soziale Unterstützung und bewusste Pausen fördern Resilienz und Energiehaushalt.


Fazit: ADHS erwachsen denken

ADHS im Erwachsenenalter bedeutet nicht, dass die Symptome verschwinden – sie verändern ihre Form. Die innere Unruhe, emotionale Labilität und Schwierigkeiten in Organisation und Motivation sind weiterhin prägend.

Psychoanalytisch betrachtet bietet das Erwachsenenalter die Möglichkeit, die eigene Identität, Selbstregulation und Lebensgestaltung bewusst zu entwickeln. Mit Verständnis, Struktur, therapeutischer Begleitung und gezielter Selbstreflexion kann die innere Unruhe in produktive Energie, kreative Lösungen und Selbstentfaltung transformiert werden.


Literatur

  • Barkley, R. A. (2016). ADHD in Adults: What the Science Says. Guilford Press.

  • Henseler, M. (2020). Burnout – Eine psychoanalytische Betrachtung. Psychosozial-Verlag.

  • Kohut, H. (1977). The Restoration of the Self. International Universities Press.

  • Fonagy, P., & Target, M. (2003). Psychoanalytic Theories: Perspectives from Developmental Psychopathology. Whurr Publishers.

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