„Du musst nicht von allen gemocht werden“ – Ein psychodynamischer Blick auf Freiheit, Verantwortung und die Angst vor Ablehnung
Literatur:
Kishimi, I. & Koga, F. (2020). Du musst nicht von allen gemocht werden. Vom Mut, sich nicht zu verbiegen. München: Rowohlt.
Einführung: Die überraschende Aktualität eines adlerianischen Klassikers
„Du musst nicht von allen gemocht werden“ ist in erster Linie eine moderne Einführung in das Denken Alfred Adlers – vermittelt im Dialog zwischen einem Philosophen und einem jungen Mann, der sich von seinen inneren Konflikten eingeengt fühlt. Obwohl das Buch nicht psychoanalytisch im engeren Sinne ist, berührt es zentrale Themen der psychodynamischen Arbeit: die Bedeutung von Selbstwert, die unbewusste Angst vor Ablehnung, die Konflikte zwischen persönlicher Freiheit und dem Wunsch nach Zugehörigkeit sowie das Ringen um ein Leben, das wirklich dem eigenen inneren Erleben entspricht.
Das Werk ist ein Plädoyer für psychische Autonomie: für den Mut, den eigenen Lebensweg zu wählen und innere Konflikte nicht durch Anpassung, sondern durch Selbstausrichtung zu lösen. Aus psychoanalytischer Sicht eröffnet der Text einen äußerst spannenden Diskussionsraum.
Der Wunsch, gemocht zu werden – ein tief verankertes Beziehungsmotiv
Die Autoren betonen, dass viele Menschen ihr Verhalten primär daran ausrichten, wie sie wahrgenommen werden. Diese Anpassungsdynamik lässt sich psychoanalytisch als Übergang zwischen frühen Beziehungserfahrungen und erwachsenen Selbstwertstrukturen lesen.
Kinder entwickeln – Winnicott zufolge – ein „False Self“, wenn sie das Gefühl haben, dass ihr authentisches Selbsterleben nicht gehalten oder gespiegelt werden kann. Das Bedürfnis, von allen gemocht zu werden, ist oft eine solche False-Self-Reaktion: ein Versuch, den inneren Schmerz früher Zurückweisung zu vermeiden, indem man Erwartungen erfüllt statt eigene Grenzen formuliert.
Kishimi und Koga fordern hier einen Perspektivwechsel: Nicht das Gemochtwerden soll im Zentrum stehen, sondern die Fähigkeit, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, auch wenn das bedeutet, Konflikte auszuhalten.
Selbstverantwortung statt Schicksal – die Neuinterpretation des Lebenswegs
Ein Kernanliegen des Buches ist die These, dass Menschen nicht Gefangene ihrer Vergangenheit sind. Das entspricht Adlers Überzeugung, dass das Leben nicht durch Ursachen, sondern durch Ziele strukturiert ist.
Aus psychoanalytischer Sicht wirkt dieser Gedanke auf den ersten Blick kontraintuitiv, weil die Psychoanalyse die Bedeutung der frühen Erfahrungen betont. Doch beide Ansätze treffen sich in einem wesentlichen Punkt: Die Vergangenheit wirkt nicht mechanisch fort. Sie wird aktualisiert, rekonstruiert und inszeniert – und genau deshalb kann sie auch transformiert werden.
Kishimi und Koga laden dazu ein, den eigenen Anteil an inneren Konflikten zu erkennen. Nicht als Schuldzuweisung, sondern als Befreiung: Wer Verantwortung übernimmt, findet Handlungsspielräume. Für die psychodynamische Therapie ist dies der Moment, in dem das Ich die unbewussten Muster erkennt und beginnt, sie zu verändern.
Der Mut zur Unvollkommenheit – ein zentraler psychoanalytischer Gedanke
Das Buch argumentiert, dass Perfektionismus eine Form der Selbstentwertung ist. Der Mensch vermeidet durch seinen Perfektionismus die reale Auseinandersetzung mit seinen Wünschen, Ängsten und Ambivalenzen. Psychoanalytisch lässt sich dies als Abwehr verstehen – häufig als Reaktionsbildung oder als Teil eines narzisstischen Schutzsystems, das die innere Verletzlichkeit verbirgt.
Der Mut zur Unvollkommenheit bedeutet:
das eigene Begehren ernst zu nehmen
Fehler nicht als Gefahr für Beziehungen zu sehen
nicht in jedem Konflikt eine narzisstische Kränkung zu erleben
das innere Kind zu entlasten, das einst Harmonie herstellen musste
Hier treffen Adler und Psychoanalyse aufeinander: Beide betonen, dass psychische Reife nicht in Perfektion liegt, sondern in der Integration des Unvollkommenen.
Aufgaben trennen – ein Konzept mit großer psychoanalytischer Relevanz
Ein bekanntes Element des Buches ist die Idee der „Aufgabentrennung“: Manche Probleme gehören nicht dem Einzelnen, sondern dem Gegenüber. Das Kind kann nicht kontrollieren, ob andere es mögen – nur, wie es selbst handelt.
Psychodynamisch betrachtet ist dies eine Einladung, die symbiotischen Verstrickungen zu lösen, die aus frühen Bindungserfahrungen entstanden sind. Viele Menschen leben in permanenten inneren Szenen der Überanpassung oder Schuld. Sie übernehmen emotionale Aufgaben, die nicht ihnen gehören – ein Mechanismus, der häufig aus frühen Parentifizierungsprozessen stammt.
Aufgabentrennung bedeutet daher weit mehr als ein kognitiver Trick. Es ist ein Schritt hin zur emotionale Entflechtung: zu einem Selbst, das für sich selbst steht.
Freiheit als Zumutung – der existenzielle Kern des Buches
Kishimi und Koga betonen, dass Freiheit nicht in erster Linie Glück bedeutet, sondern Verantwortung. Der Mensch kann sich für sein eigenes Leben entscheiden – aber genau deshalb existiert „das Risiko, nicht gemocht zu werden“.
Psychoanalytisch gehört dieser Gedanke zur Ödipaldynamik: Der Mensch muss sich von der übergeordneten Autorität (Eltern, Gesellschaft, Partnern) lösen, um sein eigenes Begehren zu entdecken. Diese Loslösung ist nicht konfliktfrei. Sie fordert ein Aushalten der Spannung zwischen Individualität und Zugehörigkeit.
Fazit: Warum das Buch für die psychodynamische Arbeit wertvoll ist
„Du musst nicht von allen gemocht werden“ bietet eine klare, strukturierte und zugängliche Einführung in psychologische Autonomie. Für die psychoanalytische Praxis ist es nicht die Theorie, die überzeugt, sondern die Haltung:
Menschen dürfen ihr authentisches Selbst entfalten.
Beziehungen gelingen nicht durch Anpassung, sondern durch Freiheit.
Vergangene Verletzungen bestimmen nicht das gesamte Leben.
Ein erfülltes Leben entsteht durch die Anerkennung der eigenen Verantwortung – und der eigenen Grenzen.
Das Buch liefert einen inspirierenden Impuls für alle, die sich beruflich oder persönlich mit innerer Freiheit, Beziehungskonflikten und Selbstwert beschäftigen.