„Ich esse deine Suppe nicht“ – Psychoanalytische Perspektiven auf gestörtes Essverhalten

Literatur:
Arbeitskreis für Kinder- und Jugendlichenpsychoanalyse (Hrsg.). Ich esse deine Suppe nicht. Psychoanalyse gestörten Essverhaltens – Ambulante Behandlungen und theoretische Konzepte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006.


Das Buch „Ich esse deine Suppe nicht“ beschäftigt sich mit einem Thema, das in der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle spielt: dem Essen als Beziehungsgeschehen, als Ausdruck innerer Konflikte und als Schauplatz früher Objektbeziehungen. Bereits der Titel deutet an, wie eng körperliche Versorgung, Autonomie, Aggression, Abwehr und Bindung miteinander verwoben sind. Das Essen wird im psychoanalytischen Verständnis zum symbolischen Ort, an dem sich Nähe und Distanz, Abhängigkeit und Abwehr, Begehrensregulation und Selbstbehauptung verdichten.

Die Beiträge des Sammelbandes knüpfen an klassische psychoanalytische Konzepte an, insbesondere an jene von Melanie Klein, Anna Freud, Mahler und Winnicott. Gleichzeitig gelingt es den Autor*innen, die klinische Realität heutiger Essstörungen einzufangen – eine Realität, die sich durch Beschleunigung, Leistungsdruck und neue familiendynamische Konstellationen verändert hat, ohne die grundlegenden unbewussten Konflikte zu ersetzen. Das Buch ist damit ein Bindeglied zwischen traditionellen psychoanalytischen Theorien und modernen klinischen Fragestellungen.

Im Zentrum steht die Frage, weshalb ein Kind oder eine Jugendliche gerade das Essen – die allererste Form der Beziehungsgestaltung – zu einem Ort des Konflikts macht. Die Autorinnen führen aus, wie bei gestörtem Essverhalten frühe Interaktionserfahrungen wiederkehren: das Erleben von Versorgung oder deren Ausbleiben, die Angst vor Vereinnahmung, das Bedürfnis nach Kontrolle, der Wunsch, das Begehren der Mutter oder des Vaters zu regulieren. Essen wird zu einer Sprache, mit der die Patientinnen unbewusste Szenen reinszenieren. Das „Nicht-Essen“ ist nicht primär eine Abwehr gegen Nahrung, sondern gegen eine bestimmte Beziehung, gegen ein Gefühl der Abhängigkeit oder gegen die Angst, psychisch verschlungen zu werden.

Besonders eindrücklich ist die Darstellung der therapeutischen Arbeit im ambulanten Setting. Die Analytiker*innen berichten, wie die Beziehung zum Kind oder Jugendlichen immer wieder an jene frühen vegetativen Erfahrungen rührt, die in der Behandlung intensiv aktualisiert werden. Die therapeutische Situation selbst wird damit oft zu einem Ort der Re-Inszenierung: Einstellungen, Ablehnungen, Kontrollversuche oder plötzliche Nähe- und Distanzschwankungen treten nicht nur im Essverhalten, sondern in der Übertragung auf. Das Essproblem verweist so auf eine darunterliegende Struktur, die nur im Rahmen einer haltenden, geduldigen Beziehung sichtbar und transformierbar wird.

Die Autor*innen widmen sich auch den Elternbeziehungen und dem bedeutsamen Einfluss des familiären Milieus. Essstörungen erscheinen hier nicht als isolierte Symptome eines einzelnen Kindes, sondern als Ausdruck eines Familienthemas, in dem es häufig um Selbstregulation, unbewusste Loyalitäten, Übertragungen zwischen den Generationen und die Auseinandersetzung mit Autonomie geht. In dieser Perspektive wird deutlich, dass Essstörungen nicht nur intrapsychische, sondern immer auch interaktive Phänomene sind. Das Kind isst nicht – oder isst zu viel –, um etwas in der Beziehung zu regulieren, zu schützen oder zu kontrollieren, das auf andere Weise nicht symbolisierbar war.

Ein weiterer Schwerpunkt des Buches liegt auf der theoretischen Einbettung. Die Beiträge thematisieren die Bedeutung von frühen mütterlichen Funktionen, wie es Winnicott beschreibt, den Umgang mit fragmentierten und nicht-integrierten Selbstanteilen im Sinne der Kleinianischen Tradition sowie die Rolle von Abwehrmechanismen, die durch Essverhalten eine körperliche Form annehmen. Das Essritual wird zum Container für unverdauten Affekt, zum Hilfs-Ich, das reguliert, was innerpsychisch noch nicht regulierbar ist. Dieser theoretische Rahmen ermöglicht ein tiefes Verständnis dafür, weshalb gerade das Essen so eng an die Entwicklung des Selbst und die Fähigkeit zur Affekthandhabung gebunden ist.

Schließlich verdeutlicht das Buch, dass die therapeutische Bearbeitung gestörten Essverhaltens Zeit, Geduld und eine feinfühlige diagnostische Haltung erfordert. Der Fortschritt zeigt sich selten linear. Rückfälle, Widerstände und scheinbare Stagnation sind integraler Bestandteil der Behandlung, weil sie Ausdruck jener frühen Beziehungsmuster sind, die in der Therapie erst symbolisierbar werden müssen. Das Essverhalten dient als Sprache, die sich nicht sofort in Worte übersetzen lässt, sondern allmählich im gemeinsamen Raum der Therapie Bedeutung erhält.

„Ich esse deine Suppe nicht“ ist daher nicht nur eine Sammlung klinischer Erfahrungen, sondern ein theoretisch durchdrungenes Buch, das die Komplexität von Essstörungen ernst nimmt und gleichzeitig die Möglichkeiten psychoanalytischer Behandlung zeigt. Es bietet einen tiefen Einblick in jene frühe psychische Landschaft, in der Essen und Beziehung unauflöslich miteinander verwoben sind – und in die therapeutische Kunst, diese Landschaft gemeinsam mit dem Kind oder Jugendlichen behutsam zu erkunden.

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