ADHS & Beziehung: Nähe, Distanz und Überforderung

Einleitung: ADHS in Partnerschaften

ADHS beeinflusst nicht nur Schule, Beruf und Selbstorganisation, sondern wirkt sich stark auf zwischenmenschliche Beziehungen aus. Sowohl in der Partnerschaft als auch im familiären Umfeld zeigen sich typische Muster von Nähe, Distanz und Überforderung, die für Betroffene und ihre Partner*innen belastend sein können.

Psychoanalytisch betrachtet lässt sich vieles durch die Dynamik von Affektregulation, Impulssteuerung und Selbstwert verstehen.


Nähe und emotionale Intensität

  • Menschen mit ADHS erleben Affekte intensiv und unmittelbar. Freude, Begeisterung, Ärger oder Frustration treten schnell und stark auf.

  • In Beziehungen äußert sich dies oft in impulsiven Handlungen, plötzlicher Nähe oder ebenso rascher Distanz, wenn Frustration oder Überforderung auftreten.

  • Partner*innen erleben dies häufig als wechselhaft oder unberechenbar, während die Betroffenen selbst oft keine bewusste Kontrolle über die Intensität ihrer Gefühle haben.

Psychoanalytisch gesehen spiegelt sich hier eine Ich-Struktur, die Affekte noch nicht ausreichend internal regulieren kann, was zu wechselnden Bedürfnissen nach Nähe und Distanz führt (Fonagy & Target, 2003).


Distanz: Rückzug und Selbstschutz

  • Rückzug ist eine typische Reaktion, wenn innere Reize, Stress oder Überforderung zunehmen.

  • Betroffene können sich emotional entziehen, um sich selbst zu schützen – was von Partner*innen oft als Ablehnung interpretiert wird.

  • Die Schwierigkeit liegt darin, Distanz nicht als Bestrafung zu verstehen, sondern als Bewältigungsstrategie, die notwendig ist, um später wieder verbindlich handeln zu können.

Hier zeigt sich die psychoanalytische Bedeutung von Selbstregulation und Ich-Funktion: Das ADHS-Selbst muss lernen, zwischen Überreizung und kooperativem Handeln zu modulieren.


Überforderung in Beziehungen

ADHS kann zu chronischer Überforderung führen – sowohl bei Betroffenen als auch bei Partner*innen:

  • Betroffene: Permanente Selbststeuerung, Kompensation von Defiziten im Alltag, emotionale Dysregulation und ständige Anpassung führen zu Erschöpfung und Burnout-Gefahr.

  • Partner*innen: Unberechenbare Impulse, emotionale Hochs und Tiefs sowie Schwierigkeiten in Planung, Haushalt oder Kommunikation können Belastung erzeugen.

Psychoanalytisch betrachtet entstehen hier Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken: Partner*innen fühlen sich oft überfordert, während ADHS-Betroffene sich missverstanden oder kontrolliert erleben.


Strategien für gelingende Beziehungen

  1. Psychoedukation: Beide Partner*innen verstehen ADHS als neurobiologische und psychodynamische Realität – nicht als mangelnde Liebe oder Absicht.

  2. Struktur und Routinen: Klare Absprachen über Haushalt, Termine oder gemeinsame Projekte reduzieren Konflikte.

  3. Kommunikation: Explizite Rückmeldungen über Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen, ohne Schuldzuweisungen.

  4. Affektregulation üben: Therapeutische Begleitung, Paarberatung oder Einzeltherapie helfen, Impulse zu erkennen und zu modulieren.

  5. Selbstfürsorge: Pausen, individuelle Aktivitäten und bewusste Entlastung vermeiden permanente Überforderung.

  6. Lob und Anerkennung: Positive Verstärkung stärkt Selbstwert und Motivation, statt sich nur auf Fehler und Defizite zu konzentrieren.


Fazit: ADHS als Beziehungsthema

ADHS wirkt sich auf Nähe, Distanz und Überforderung in Beziehungen aus – sowohl emotional als auch praktisch. Psychoanalytisch betrachtet zeigt sich hier die Bedeutung von Affektregulation, Ich-Struktur und Spiegelung: Wer lernt, Impulse zu verstehen und zu modulieren, kann stabile, erfüllende Beziehungen führen.

ADHS ist keine Schuld, sondern eine Herausforderung und zugleich eine Chance: mit Empathie, Struktur und psychoedukativem Verständnis kann Partnerschaft gelingen, Nähe lebendig und Distanz regulierbar werden.


Literatur

  • Barkley, R. A. (2016). ADHD in Adults: What the Science Says. Guilford Press.

  • Fonagy, P., & Target, M. (2003). Psychoanalytic Theories: Perspectives from Developmental Psychopathology. Whurr Publishers.

  • Henseler, M. (2020). Burnout – Eine psychoanalytische Betrachtung. Psychosozial-Verlag.

  • Kohut, H. (1977). The Restoration of the Self. International Universities Press.

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