Vom Chaos zur Kohärenz: Wie Therapie Reifung ermöglicht

Einleitung: Zwischen Überflutung und Leere

Viele Menschen mit ADHS beschreiben ihr Erleben als einen ständigen Wechsel zwischen zu viel und zu wenig – zu viel Reiz, zu viel Gefühl, zu viel Energie – und zugleich ein inneres Vakuum, eine Leere, wenn die äußere Struktur wegfällt.
Dieses Pendeln zwischen Überflutung und Erschöpfung ist Ausdruck eines unreifen inneren Halts: Das Ich kann Affekte, Spannungen und innere Impulse noch nicht ausreichend regulieren.

Therapie wird hier nicht nur zum Ort des Verstehens, sondern zu einem Reifungsraum – ein Zwischenraum, in dem neue Formen von Selbstregulation erlernt werden, bevor sie bewusst verfügbar sind.


Das haltende Setting als Ersatz-Stirnhirn

Neurobiologisch betrachtet, übernimmt die Therapeutin im therapeutischen Prozess vorübergehend die Funktion des präfrontalen Cortex – sie „leiht“ dem unreifen System ihre Stabilität und ermöglicht damit, dass Affekte, die zuvor zu überwältigend waren, allmählich gedacht werden können.
Allan Schore (2012) beschreibt, wie wiederholte empathische Resonanz- und Containmentprozesse die neuronalen Verbindungen zwischen limbischem System und Stirnhirn stärken.

Psychoanalytisch gesprochen: Die Therapeutin wird zum hilfreichen Ich, das dem Patienten Halt gibt, bis dieser ihn selbst verinnerlichen kann.

So entsteht langsam eine innere Struktur, die Spannungen hält, ohne sie sofort in Handlung oder Rückzug zu entladen.


Der Weg von der Dysregulation zur Selbstrepräsentation

Die zentrale Aufgabe der psychoanalytischen Therapie bei ADHS besteht darin, den Übergang vom körperlich-impulsiven Ausdruck zum symbolischen Denken zu fördern.
Das bedeutet: Der Patient lernt, Affekte nicht mehr ausschließlich über Handlungen zu regulieren, sondern sie als Teil des eigenen Erlebens zu erkennen und zu benennen.

Winnicott (1960) nannte diesen Prozess die „Entdeckung des inneren Raums“. Erst wenn ein Mensch spürt, dass seine inneren Zustände gehalten werden können, kann er beginnen, sich selbst als zusammenhängendes Subjekt zu erleben.

Therapeutisch zeigt sich das in kleinen, oft unspektakulären Momenten: Ein Impuls, der früher zu einem Wutausbruch geführt hätte, wird erkannt – vielleicht kurz besprochen – und verliert dadurch seine Sprengkraft.

Das ist Reifung in Echtzeit.


Therapie als Ort der Nachreifung

Während sich die Neurobiologie mit dem „Wann“ und „Wie“ der Stirnhirnreifung beschäftigt, beschreibt die Psychoanalyse das „Wozu“: Reifung ist keine lineare Entwicklung, sondern ein nachholbarer, beziehungsgebundener Prozess.

Gerade Erwachsene mit ADHS erleben in der Therapie oft erstmals, dass jemand sie nicht als „zu viel“ oder „zu wenig“ empfindet, sondern als jemand, der einfach noch lernt, sich zu halten.
In dieser wiederholten Erfahrung von Verständnis entsteht Selbstvertrauen – und mit ihm wächst die Fähigkeit zur Selbststeuerung.

Die innere Struktur stabilisiert sich, das Denken kann die Stelle des Handelns einnehmen. Das vormals chaotische Erleben beginnt, eine Form anzunehmen – es entsteht Kohärenz.


Das Ziel ist nicht Kontrolle, sondern Integration

Psychoanalytische Behandlung zielt nicht auf Disziplinierung oder Symptomkontrolle, sondern auf Integration.
Wenn das Kind, der Jugendliche oder der Erwachsene mit ADHS lernt, seine Gefühle nicht zu bekämpfen, sondern zu verstehen, entsteht ein anderes Verhältnis zum eigenen Erleben.

Das Chaos verliert seine Bedrohlichkeit. Es wird zum Material, aus dem sich allmählich ein zusammenhängendes Selbstgefühl formen kann – eines, das Affekte, Gedanken und Handlungen in ein inneres Ganzes integriert.

Das ist die tiefere Bedeutung von Heilung: Nicht Anpassung, sondern Integration. Nicht Funktionieren, sondern innerer Zusammenhang.


Fazit: Reifung als Beziehungserfahrung

Am Ende steht kein „geheilter“ ADHS-Betroffener, sondern ein Mensch, der sich selbst besser versteht, halten und lenken kann.
Die therapeutische Beziehung wird so zur Keimzelle einer neuen Form von Selbstkontakt – einer, die Geduld, Mitgefühl und symbolisches Denken vereint.

Reifung bedeutet hier: Aus Chaos wird Kohärenz.
Und Kohärenz ist nichts anderes als die Erfahrung, dass man in sich selbst zu Hause sein darf.


Literatur

  • Schore, A. N. (2012). The Science of the Art of Psychotherapy. Norton.

  • Fonagy, P., & Target, M. (2003). Psychoanalytic Theories: Perspectives from Developmental Psychopathology. Whurr Publishers.

  • Winnicott, D. W. (1960). Ego Distortion in Terms of True and False Self. In The Maturational Processes and the Facilitating Environment. London: Hogarth Press.

  • Barkley, R. A. (2018). Taking Charge of ADHD. Guilford Press.

Add a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert