Affekt und Handlung: Warum Impulsivität oft eine Sprache ist

Einleitung: Wenn Handeln schneller ist als Fühlen

Ein Kind steht mitten im Unterricht auf, ruft etwas dazwischen oder verlässt plötzlich den Raum. Ein Jugendlicher schlägt die Tür zu, bevor er begreifen kann, warum er so wütend ist. Erwachsene mit ADHS berichten, dass sie „zuerst handeln und dann denken“.
Solche impulsiven Handlungen werden häufig als Unreife, Trotz oder Disziplinlosigkeit missverstanden. Doch psychoanalytisch betrachtet sind sie eine Form von Kommunikation – eine Sprache des Affekts, die entsteht, wenn Worte fehlen.


Affektregulation und das Scheitern des Denkens

Der psychoanalytische Begriff des Affekts beschreibt nicht bloß Emotion, sondern die energetische Qualität psychischer Spannung, die Ausdruck sucht.
Wenn die Fähigkeit, Affekte zu symbolisieren oder zu mentalisieren, eingeschränkt ist – also wenn der Mensch nicht in der Lage ist, das innere Erleben in Gedanken zu verwandeln – bleibt nur der Körper und die Handlung als Ausdrucksform.

Peter Fonagy und Mary Target (2003) beschreiben dies als einen Zusammenbruch der „Reflexiven Funktion“. In Momenten intensiver Erregung verliert das Subjekt die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken. Die Handlung tritt an die Stelle des Denkens – das Tun wird zur Regulierung des unerträglichen inneren Zustands.

Impulsivität ist daher nicht nur ein Symptom, sondern eine primitive Form der Selbstberuhigung – ein Versuch, das innere Chaos nach außen zu verlagern, um es irgendwie kontrollierbar zu machen.


Das „Nicht-aushalten-Können“ und die Rückkehr des Affekts

In der Psychoanalyse gilt: Jeder nicht gefühlte Affekt sucht sich einen Ausdruck. Wird er nicht gedacht, wird er getan.
Beim ADHS-Ich, dessen präfrontale und affektive Systeme oft noch unreif integriert sind, ist diese Dynamik besonders sichtbar. Die Impulsivität ist hier keine Entscheidung, sondern ein Ausdruck innerer Not – der Versuch, Unerträgliches zu entladen, bevor es bewusst erlebt werden kann.

Wilfred Bion (1962) beschrieb diesen Vorgang als acting out – ein Handeln anstelle des Denkens. Wo kein innerer Raum besteht, um einen Affekt zu halten, wird er externalisiert. Das Kind oder der Erwachsene reagiert impulsiv, um nicht zu implodieren.

Das „Nicht-aushalten-Können“ ist daher weniger Schwäche als Hinweis auf einen Mangel an innerem Containment.


Handlung als Kommunikationsversuch

Auch wenn impulsive Akte destruktiv wirken, können sie in der therapeutischen Beziehung als Mitteilung verstanden werden.
Das Kind, das schreit oder provoziert, sagt unbewusst: „Hilf mir, mich zu halten.“
Die Patientin, die zu spät kommt oder Termine vergisst, kommuniziert etwas über ihre innere Desorganisation und über den Wunsch nach Struktur, die sie selbst nicht aufrechterhalten kann.

Winnicott (1958) schrieb: „Ein Kind, das zerstört, sucht nicht die Zerstörung – es sucht das Objekt, das überlebt.“
In der therapeutischen Situation bedeutet das: Der Impuls ist ein Beziehungstest – ein Versuch, herauszufinden, ob der andere (die Therapeutin, der Elternteil, der Partner) das hält, was innerlich zerfällt.


Vom Affekt zur Symbolisierung: Der Weg zur Reifung

Das Ziel psychoanalytischer Arbeit mit ADHS-Betroffenen ist nicht, Impulse zu unterdrücken, sondern sie zu übersetzen – vom Körperlichen ins Symbolische.
Therapie wird zum Raum, in dem Affekte allmählich gedacht werden können. Durch die Resonanz und das Containment der Therapeutin lernt das unreife Ich, dass Gefühle gehalten werden können, ohne sofort in Handlung umzuschlagen.

Das entspricht auch neurowissenschaftlichen Erkenntnissen: Durch wiederholte empathische Spiegelung und Regulation in Beziehung werden neuronale Netzwerke im präfrontalen Cortex gestärkt, die Impulskontrolle und Affektintegration ermöglichen (Schore, 2012).


Fazit: Impulsivität verstehen heißt, Affekt hören

Impulsivität ist keine Laune oder Schwäche, sondern Ausdruck eines noch nicht gereiften inneren Systems, das zwischen Fühlen, Denken und Handeln noch keine stabile Brücke gebaut hat.
Das Verstehen dieser Dynamik bedeutet, nicht die Handlung zu verurteilen, sondern ihre Sprache zu entschlüsseln – und darin die Bitte um Halt zu hören.


Literatur

  • Bion, W. R. (1962). Learning from Experience. Heinemann.

  • Fonagy, P., & Target, M. (2003). Psychoanalytic Theories: Perspectives from Developmental Psychopathology. Whurr Publishers.

  • Schore, A. N. (2012). The Science of the Art of Psychotherapy. Norton.

  • Winnicott, D. W. (1958). The Capacity to be Alone. In The Maturational Processes and the Facilitating Environment. London: Hogarth Press.

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