Affekte ohne Filter: ADHS und die emotionale Überflutung
Einführung
Wer mit einem Kind oder Erwachsenen mit ADHS zu tun hat, erlebt oft eine Intensität, die schwer zu greifen ist: Freude schlägt blitzschnell in Wut um, Tränen in Lachen, Begeisterung in Erschöpfung. Diese emotionalen Hochs und Tiefs sind nicht bloß Launen – sie sind Ausdruck einer tiefgreifenden Regulationsschwäche.
Das präfrontale Gehirn, das normalerweise als „Filter“ zwischen Gefühl und Handlung wirkt, ist bei ADHS weniger aktiv. Doch auch psychodynamisch betrachtet zeigt sich ein Ich, das von Affekten überschwemmt wird, bevor es sie binden kann.
Neurobiologische Perspektive: Das Gehirn ohne Bremse
Im Gehirn reguliert der präfrontale Cortex die Aktivität des limbischen Systems – vor allem der Amygdala, unserem emotionalen „Alarmzentrum“.
Bei ADHS funktioniert diese Bremse nur eingeschränkt: Emotionale Reize werden rascher, stärker und unmittelbarer verarbeitet. Barkley (2018) spricht hier von einem Defizit in der inhibitorischen Kontrolle – also der Fähigkeit, einen Impuls innezuhalten, bevor er zur Handlung wird.
Das Ergebnis:
Emotionen werden intensiver erlebt
Reaktionen sind unmittelbarer
Selbst kleine Frustrationen können Überflutungen auslösen
Diese neurobiologische Realität erklärt, warum Kinder und Erwachsene mit ADHS häufig als „überempfindlich“ gelten – obwohl sie in Wahrheit nur direkter fühlen.
Psychoanalytischer Fokus: Affektregulation als Reifungsleistung des Ich
Affektregulation ist eine Funktion des reifen Ichs: Es bindet Gefühle an Worte, Symbole und Vorstellungen. Bei einer Reifungsverzögerung gelingt diese Bindung nur teilweise – Affekte bleiben körpernah, unverbunden, eruptiv.
Fonagy & Target (2003) beschreiben in diesem Zusammenhang das Konzept der Mentalisierung: die Fähigkeit, Emotionen als eigene innere Zustände zu erkennen, anstatt sie unmittelbar zu agieren.
Im Kontext von ADHS zeigt sich, dass diese Fähigkeit brüchig ist – Affekte werden gefühlt, aber nicht gedacht.
Das Ich wird von Gefühlen überflutet, bevor es sie verstehen oder kontrollieren kann.
Affekte als Signal, nicht als Störung
In der psychoanalytischen Perspektive sind Affekte keine Störfaktoren, sondern Signale innerer Realität. Das Problem bei ADHS besteht nicht im „Zuviel“ an Gefühl, sondern im Fehlen eines inneren Containers, der diese Gefühle aufnehmen kann.
In der Therapie erleben Patient:innen häufig, dass sie von der Intensität ihrer Emotionen überrascht oder beschämt sind.
Ein typischer Satz lautet: „Ich will gar nicht so heftig reagieren – aber es passiert einfach.“
Hier zeigt sich das zentrale Thema: Das Gefühl wird, bevor es gedacht wird.
Die psychoanalytische Arbeit versucht, diesen Moment zwischen Affekt und Handlung zu erweitern – also den „Raum des Denkens“ (Bion, 1962) zu schaffen.
Affektüberflutung als Abwehr
Manchmal dient die emotionale Überflutung selbst als Abwehr gegen unerträgliche innere Spannungen.
Anstatt Trauer, Schuld oder Ohnmacht zu spüren, tritt eine intensive Reaktion nach außen – ein Wutausbruch, eine impulsive Handlung, ein Rückzug.
So wird der Affekt „verlagert“, ohne symbolisiert zu werden.
Diese Dynamik kann in der Therapie irritierend wirken: Patient:innen wirken lebendig, kontaktfreudig, spontan – und zugleich emotional ungreifbar.
Das Analytische Setting bietet hier die Möglichkeit, den Affekt nicht zu unterdrücken, sondern zu halten – bis er in Worte gefasst werden kann.
Therapeutische Implikation: Den Affekt halten, nicht bremsen
Das Ziel in der Behandlung von ADHS ist nicht emotionale Disziplin, sondern emotionale Integration.
Das bedeutet:
Affekte dürfen da sein, aber sie müssen gesehen und verstanden werden.
Der oder die Therapeut:in bietet Halt, indem er/sie den Affekt mitträgt, ohne mitzureagieren.
Der analytische Raum wird so zu einer Zwischenzone zwischen Gefühl und Handlung – einem Ort, an dem das Kind (oder der Erwachsene) lernt, Emotionen zu denken.
Große (2007) betont in ihrem Buch Wie Michel aus Lönneberga, dass Kinder mit ADHS oft „fühlen, bevor sie denken“.
Therapie bedeutet dann, das Denken an das Fühlen heranzuführen – langsam, geduldig und mit Humor.
Fazit
ADHS ist keine Störung der Emotion, sondern der Affektintegration.
Das Gehirn reagiert schnell – das Ich kommt erst hinterher.
Therapie kann hier helfen, den inneren „Filter“ zu entwickeln: nicht indem sie Emotionen dämpft, sondern indem sie ihnen eine Form gibt.
So entsteht mit der Zeit, was neurobiologisch als Reifung und psychodynamisch als Ich-Stärkung verstanden werden kann:
die Fähigkeit, zu fühlen, ohne vom Gefühl verschlungen zu werden.
Literatur
Barkley, R. A. (2018). Taking Charge of ADHD: The Complete, Authoritative Guide for Parents. New York: Guilford Press.
Fonagy, P. & Target, M. (2003). Psychoanalytic Theories: Perspectives from Developmental Psychopathology.London: Whurr.
Bion, W. R. (1962). Learning from Experience. London: Heinemann.
Große, G. (2007). Wie Michel aus Lönneberga: Kinder mit ADHS verstehen und fördern. Stuttgart: Klett-Cotta.