Stolz – Die fragile Rüstung des Selbst

Stolz gilt in unserer Gesellschaft oft als positive Eigenschaft: Selbstbewusstsein, Erfolg, Eigenständigkeit – all das wird mit Stolz assoziiert. Doch was passiert, wenn Stolz übermäßig wird? Psychoanalytisch betrachtet kann Stolz mehr als nur eine Charakterstärke sein: Er kann eine Rüstung darstellen, hinter der tiefe Unsicherheiten und Ängste verborgen liegen.

Stolz als Abwehrmechanismus

Sigmund Freud (1923) beschreibt in Das Ich und das Es, dass unser Ich verschiedene Mechanismen entwickelt, um Angst und Scham zu bewältigen. Übermäßiger Stolz kann dabei als eine Art Schutzschild dienen. Wer grandios wirkt, verbirgt oft innere Verletzlichkeit, Minderwertigkeitsgefühle oder Unsicherheiten. Auf diese Weise schützt Stolz das Selbst davor, sich klein, unzulänglich oder schutzlos zu fühlen.

Heinz Kohut (1977) erweitert diese Perspektive: Grandioser Stolz entsteht häufig aus unbefriedigten frühkindlichen Bedürfnissen nach Spiegelung und Anerkennung. Kinder, die nicht ausreichend Bestätigung erfahren, entwickeln manchmal eine Art „übertriebenes Selbstwertgefühl“ als Kompensation. Dieses Verhalten kann sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen.

Stolz in Beziehungen

Die Schutzfunktion von Stolz hat jedoch eine Kehrseite. Wer seinen inneren Mangel mit Stolz kaschiert, kann Schwierigkeiten haben, Nähe und Vertrauen zuzulassen. Beziehungen werden belastet, wenn Stolz als Überkompensation auftritt: Stolze Menschen wirken oft unnahbar, dominant oder unflexibel. Gleichzeitig bleibt die darunterliegende Verletzlichkeit unadressiert, was zu wiederkehrenden inneren Spannungen führen kann.

Psychoanalytischer Blick

Psychoanalytisch betrachtet ist Stolz also nicht nur eine Frage von Charakter oder Moral. Er ist ein Hinweis auf innere Konflikte und auf Aspekte des Selbst, die geschützt oder verborgen werden müssen. Wer übermäßig stolz wirkt, zeigt damit oft eine Maske – ein Schutz gegen Scham, Angst oder Minderwertigkeitsgefühle. Die Auseinandersetzung mit Stolz kann daher eine Einladung sein, eigene Verletzlichkeiten zu erkennen und einen sicheren, authentischen Selbstwert zu entwickeln.

Kurz zusammengefasst:

  • Stolz kann Selbstschutz sein, eine Rüstung gegen Angst und Scham.

  • Übermäßiger Stolz kann Beziehungen belasten und Nähe erschweren.

  • Psychoanalytisch betrachtet ist Stolz ein Hinweis auf unbewusste Verletzlichkeiten und frühkindliche Bedürfnisse.

Literatur & Referenzen

  • Freud, S. (1923). Das Ich und das Es. Internationaler Psychoanalytischer Verlag.

  • Kohut, H. (1977). The Restoration of the Self. New York: International Universities Press.

  • Kernberg, O. F. (1975). Borderline Conditions and Pathological Narcissism. New York: Jason Aronson.

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