Ein kleiner Teil, der dem ganzen Wahnsinn zuschaut: Über Neid, Gier und die Muster des Wahnsinns
Eine psychoanalytische Reflexion zu Freud, Simington und den „Patterns of Madness“
1. Wahnsinn als Struktur, nicht als Ausnahme
Der Titel “Patterns of Madness” stammt aus einem Vortrag von John Simington (1996), in dem er die Idee entfaltet, dass „madness“ kein Fremdkörper, sondern ein strukturelles Moment der menschlichen Psyche ist. Wahnsinn ist nicht „außerhalb“ des Normalen, sondern die Grenze, an der das Denken kollabiert – wo das Ich den Schmerz des Bewusstseins nicht mehr halten kann.
Simington schreibt:
„Madness is not the opposite of sanity; it is what sanity defends itself against.“
Damit steht er ganz in der Tradition von Freud (1911), der in „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)“ (Der Fall Schreber) schreibt, dass der Wahn nicht der Zerfall, sondern der Versuch einer Heilung sei – ein Versuch, die Realität auf neue Weise wieder zusammenzufügen, nachdem sie durch Neid, Enttäuschung oder Verlust zerbrochen ist.
2. Der kleine Teil, der zuschaut
In der Analyse psychotischer Zustände beschreibt Bion (1957) eine paradoxe Fähigkeit: selbst im Moment des totalen seelischen Zusammenbruchs existiert häufig ein kleiner Teil des Selbst, der beobachtet, was geschieht. Dieser kleine Rest des Ichs – manchmal kaum mehr als ein innerer Blick – kann die Brücke zur Wiederherstellung sein.
„There is a small part of the personality that watches the madness, and that part must be preserved at all costs.“
– Bion, On Arrogance (1957)
Dieser „zuschauende Teil“ ist der Keim der Analyse selbst: die Fähigkeit, die eigene Zerstörung zu betrachten, ohne völlig mit ihr zu verschmelzen. Freud würde sagen: das Minimum an Ich-Funktion, das noch Beobachter ist, selbst wenn das Subjekt im Wahn untergeht.
3. Neid und Gier als Quellen des Wahns
Simington (1996) und Symington (1993) verstehen viele Formen des „madness pattern“ als Reaktionen auf unerträglichen Neid und Gier.
Neid zerstört das Objekt, weil es das Gute im Anderen nicht aushalten kann.
Gier entleert das Objekt, weil es nicht als eigenständig anerkannt wird.
Wenn diese Affekte überhandnehmen, kann das Ich den Verlust von Kontrolle nicht symbolisieren – und die Realität bricht auf. Der psychotische Wahn ist dann der Versuch, diesen Bruch zu flicken: eine verzweifelte Rekonstruktion eines verlorenen Zusammenhangs.
In Freuds Sinn ist der Wahn also kein „reines Chaos“, sondern eine Reparaturarbeit des psychischen Apparats:
„Der Wahn enthält einen Kern von Wahrheit – er ist der Versuch, das verlorene Stück der Realität wieder einzufügen.“
– Freud (1911), Schreber-Fall
Doch dieser Versuch ist durch Neid vergiftet: Der Wahn will nicht nur das verlorene Objekt wiederherstellen, sondern es beherrschen.
4. Muster des Wahnsinns – Patterns of Madness
Simington beschreibt in “Patterns of Madness” die Tendenz des Geistes, Zerstörung als Wiederherstellung zu missverstehen. Der Wahn wiederholt, was er nicht halten kann: Beziehung.
Ein Beispiel: In der Psychose kann die omnipotente Identifikation mit dem Anderen als Versuch gelesen werden, die Getrenntheit zu leugnen. In der Gier wird der Andere verschlungen, in der Hoffnung, ihn so nie mehr zu verlieren.
„The mad state is one in which envy and greed have replaced relatedness.“
– Simington, 1996
So werden Beziehungen zu Mustern: Kreisläufe aus Angriff und Rückzug, Verschlingen und Entleeren, Verschmelzung und Spaltung.
5. Der psychoanalytische Raum als Ort des Beobachtens
In der analytischen Situation geschieht, was Bion „recovery of observation“ nennt: Der kleine Teil, der zuschaut, wird gestärkt. Der Analytiker dient dabei als Container, der das Beobachten aushält, das Denken ermöglicht, wo zuvor nur Überwältigung war.
Simington (1996) formuliert:
„Analysis is the recovery of the capacity to look at one’s madness without collapsing into it.“
Das Durcharbeiten von Neid und Gier bedeutet nicht, sie zu „überwinden“, sondern sie zu erkennen und zu halten. Erst dann kann der zerstörerische Impuls transformiert werden in etwas Symbolisches, Denkbares.
Hier begegnen sich Freud, Bion und Simington:
Freud sieht im Wahn einen Versuch der Heilung.
Bion sieht in der Beobachtung den Beginn des Denkens.
Simington sieht in der Anerkennung von Neid und Gier den ersten Schritt zur Beziehung.
6. Der kleine Zeuge als Rest von Liebe
Der „kleine Teil, der zuschaut“, ist psychisch identisch mit dem, was Klein (1957) als „good internal object“ beschreibt: ein Rest von Vertrauen, dass es etwas gibt, das nicht zerstört ist. Dieses kleine, oft kaum bewusste Wissen ermöglicht, dass Analyse überhaupt stattfindet – dass der Analysand trotz des inneren Chaos erscheint, spricht, hofft.
In diesem Sinne ist der kleine Zeuge auch ein Rest der Liebe – das Überbleibsel jener Fähigkeit, die Freud (1923) im Ich und das Es als Kern des Überlebens beschreibt:
„Wo Es war, soll Ich werden.“
Das „Ich werden“ ist nichts anderes als die Wiederherstellung des Beobachters im Subjekt – der Teil, der den Wahnsinn sieht und dadurch etwas Neues möglich macht.
7. Literaturhinweise
Freud, S. (1911). Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides). GW VIII.
Freud, S. (1923). Das Ich und das Es. GW XIII.
Bion, W. R. (1957). On Arrogance. International Journal of Psycho-Analysis, 38:144–146.
Bion, W. R. (1962). Learning from Experience. London: Heinemann.
- Sigmund-Freud-Vorlesungen. (2025). Neid und Gier. Öffentliche Vorlesung, Wien: Sigmund Freud Gesellschaft.
Simington, J. (1996). Patterns of Madness. In: The Analytic Experience: Lectures from the Tavistock. London: Free Association Books.
Symington, N. (1993). Narcissism: A New Theory. London: Karnac.
Klein, M. (1957). Envy and Gratitude and Other Works. London: Hogarth Press.
8. Schluss: Der stille Beobachter
Am Ende bleibt dieser „kleine Teil“ – der, der zuschaut.
Er ist das psychische Äquivalent des Überlebensinstinkts der Seele: die Fähigkeit, Zeuge zu sein, statt Täter oder Opfer der eigenen Zerstörung.
In der Analyse wächst aus diesem stillen Beobachter langsam die Fähigkeit, die Wahrheit zu ertragen – über Neid, über Gier, über den eigenen Anteil am Wahnsinn.
„Madness loses its power when it can be watched with love.“
– frei nach Simington