Zwischen Bildschirm und Begehren – Psychoanalytische Gedanken zur Mediensucht

In den letzten Jahren ist viel von „Mediensucht“ oder „digitaler Abhängigkeit“ die Rede. Kinder, Jugendliche, Erwachsene – ganze Generationen scheinen von Smartphones, Streaming-Diensten, sozialen Netzwerken oder Computerspielen in ihren Bann gezogen zu werden. Die Rede von der „Sucht“ deutet an, dass es sich dabei nicht bloß um ein technisches oder soziales Phänomen handelt, sondern um ein seelisches: etwas, das mit unserem Begehren, unserer Angst und unserem inneren Erleben zu tun hat.

Die Lust, sich zu verlieren

Aus psychoanalytischer Sicht ist das Medium – ob Bildschirm, Spiel oder Social Media – nie nur ein „Ding draußen“, sondern immer ein Teil der inneren Welt. Es kann zum Ort einer Regression werden: einer Rückkehr in einen Zustand, in dem Kontrolle, Verantwortung und Realität für eine Zeit aufgehoben sind. Freud beschrieb schon 1920 in Jenseits des Lustprinzips, dass Menschen immer wieder „das Unlustvolle“ aufsuchen, um es in einen lustvollen Zusammenhang zu bringen – etwa im Spiel, im Traum oder in der Wiederholung.

In der exzessiven Mediennutzung kann etwas Ähnliches geschehen: die Wiederholung einer frühen Erfahrung von Abhängigkeit und Verschmelzung, aber diesmal technisch vermittelt. Das endlose Scrollen, das Aufgehen in einer virtuellen Welt, kann ein Versuch sein, das Ich aufzulösen – dort, wo die innere Leere sonst unerträglich wäre. Der Bildschirm bietet eine scheinbar sichere Umgebung, in der Nähe und Distanz, Kontrolle und Hingabe jederzeit regulierbar sind.

Leere, Kontrolle und das Ich-Ideal

Viele psychoanalytische Autoren sehen in Suchtphänomenen den Versuch, eine fragile Ich-Struktur zu stabilisieren. In der Mediennutzung wird diese Dynamik besonders sichtbar: Das Ich sucht Halt im Rhythmus der Benachrichtigungen, in der Bestätigung durch „Likes“, in der Kontrolle über den eigenen digitalen Auftritt. Dabei spaltet es oft ein idealisiertes Selbstbild ab – erfolgreich, begehrenswert, unermüdlich verfügbar – und verleugnet gleichzeitig das Gefühl innerer Ohnmacht oder Einsamkeit.

Der französische Psychoanalytiker Serge Tisseron (Virtuel, mon amour, 2008) beschreibt, dass digitale Medien eine „Zwischenwelt“ schaffen, in der wir zugleich geschützt und ausgestellt sind. Sie erlauben, Nähe zu simulieren, ohne sich wirklich zu zeigen. Die Folge ist ein paradoxes Erleben: permanente Verbundenheit und zugleich tiefe Isolation.

Das Unbewusste im Netz

Das Netz ist kein neutraler Raum – es ist, wie der britische Analytiker Darian Leader betont (Hands, 2016), eine Bühne, auf der unbewusste Fantasien sich entfalten können: von Allmacht, Kontrolle, Verfügbarkeit, ewiger Jugend. In der endlosen Reizvielfalt kann das Subjekt zugleich sich selbst verlieren und wiederfinden. Der Medienkonsum wird dann zum Mittel der Affektregulation – eine Art Selbstmedikation gegen Angst, Langeweile oder Selbstzweifel.

Wenn Jugendliche in Computerspielen aufgehen oder Erwachsene stundenlang durch Feeds scrollen, kann das auch als Versuch verstanden werden, eine frühe Trennungserfahrung oder ein Gefühl von innerer Verlassenheit zu bearbeiten – mit den Mitteln der Technik. Das Digitale bietet dann eine Illusion der Bindung, ohne das Risiko wirklicher Beziehung.

Vom Gebrauch zum Missbrauch

Wann also wird Mediennutzung zur „Sucht“? Psychoanalytisch gesprochen dann, wenn das Medium nicht mehr ein Raum für symbolisches Erleben bleibt, sondern zu einem fetischistischen Objekt wird – zu etwas, das das Subjekt braucht, um das innere Loch zu verschließen. Freud beschrieb den Fetisch als ein Objekt, das die Angst vor Verlust oder Mangel abwehrt. In der Mediensucht kann der Bildschirm, das Handy, die Serie genau diese Funktion übernehmen: das, was das Fehlen der inneren Welt überdeckt.

Das Ziel psychoanalytischer Arbeit wäre daher nicht, Medien zu verbannen, sondern ihre unbewusste Bedeutung zu verstehen. Was sucht das Subjekt im Medium? Was wird dort gehalten, wiederholt, inszeniert, verleugnet?

Das Digitale als Symptom der Moderne

In gewisser Weise sind wir alle mediensüchtig – oder zumindest mediendurchdrungen. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan sprach vom „Spiegelstadium“: jenem Moment, in dem das Kind sich im Spiegel als Ganzes erkennt und zugleich in der Illusion eines kohärenten Ichs verfängt. Das Smartphone könnte man als den modernen Spiegel lesen: ein permanentes Selbstbild, das wir kuratieren, bearbeiten, mit der Außenwelt teilen – und doch nie ganz beherrschen.

In diesem Sinn ist Mediensucht nicht nur ein individuelles, sondern ein kulturelles Symptom. Sie spiegelt eine Gesellschaft, die von Beschleunigung, Selbstoptimierung und ständiger Erreichbarkeit geprägt ist – und in der die Erfahrung von Stille, Leere und Nichtwissen kaum noch Platz hat.


Literaturhinweise (Auswahl)

  • Freud, S. (1920). Jenseits des Lustprinzips. GW XIII.

  • Leader, D. (2016). Hands: What We Do with Them – and Why. London: Hamish Hamilton.

  • Tisseron, S. (2008). Virtuel, mon amour. Penser, aimer, souffrir à l’ère des nouvelles technologies. Paris: Albin Michel.

  • Turkle, S. (2011). Alone Together: Why We Expect More from Technology and Less from Each Other. New York: Basic Books.

  • Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp.

  • Illouz, E. (2018). Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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