📱 Zwischen Nähe und Leere: Eine psychoanalytische Perspektive auf Handysucht und Computerspielsucht

In der digitalen Welt sind Smartphone und Computer längst zu unseren ständigen Begleitern geworden. Sie informieren, verbinden, unterhalten – und sie füllen Leerstellen. Doch manchmal kippt das Verhältnis: Das Gerät hört nicht mehr auf, nach uns zu rufen. Ein kurzes Scrollen wird zu Stunden des Verschwindens, ein Spiel zur nächtlichen Flucht.
Warum ist es so schwer, „abzuschalten“ – und was suchen wir wirklich im Bildschirm?

Die digitale Droge: Nähe ohne Risiko

In psychoanalytischer Sicht steht das Handy oft für eine Ersatzbeziehung: ein Objekt, das immer verfügbar ist, niemals zurückweist und augenblicklich reagiert. Es stillt unbewusste Wünsche nach Bindung, Bestätigung und Kontrolle.
Wenn Beziehungen im realen Leben als unzuverlässig, überfordernd oder schmerzhaft erlebt wurden, kann das Handy zum „idealen Anderen“ werden – berechenbar, tröstlich, sofort da.

Der französische Psychoanalytiker André Green (1999) sprach vom negativen Narzissmus – einem Zustand innerer Leere, in dem Beziehungen zwar gesucht, aber nicht wirklich ertragen werden können. Das ständige Scrollen, Spielen oder Chatten kann als Versuch verstanden werden, diese Leere mit Reizen, Bildern und kurzen Momenten von Erregung zu überdecken.

Das Spiel als Bühne des Unbewussten

Computerspiele bieten eine faszinierende Mischung aus Kontrolle und Fantasie: Wir können gestalten, zerstören, wiederauferstehen – in Welten, die wir beherrschen. Besonders in Onlinespielen entstehen intensive emotionale Bindungen: zu Avataren, Mitspieler:innen, Rollen.

Aus psychoanalytischer Sicht kann das Spiel zum Ort der Wiederholung alter Beziehungserfahrungen werden – etwa des Ringens um Anerkennung, des Kampfes gegen Übermacht oder der Suche nach Identität.
Der Spieler oder die Spielerin erlebt sich im Spiel als mächtig und sicher, während die Realität oft von Ohnmacht, Einsamkeit oder innerer Unsicherheit geprägt ist.

Donald Winnicott (1953) beschrieb das Spiel als einen Zwischenraum zwischen innerer und äußerer Realität – einen Raum des Werdens, des Ausdrucks und der Kreativität. Wenn dieser Zwischenraum aber nicht gehalten wird, kippt das Spielhafte in Zwang: Das Spiel verliert seine Freiheit und wird zur Kompulsion.

Der Rausch des Verschwindens

Viele Betroffene berichten, dass sie im digitalen Raum „sich selbst vergessen“. Zeit, Körper und Bedürfnisse treten zurück. In psychoanalytischer Sprache könnte man sagen: Es entsteht ein Regressionszustand, ein Rückzug in eine frühere Entwicklungsphase, in der Verschmelzung und Selbstauflösung tröstlich waren.
Der Bildschirm wird zum „Halteobjekt“ – ähnlich wie ein Übergangsobjekt in der frühen Kindheit – und dient der Beruhigung, aber auch der Abwehr von Angst, Leere und Trauer.

Wilfred Bion (1962) betonte, dass Menschen Erfahrungen „verdauen“ müssen, um zu wachsen. Wenn dies nicht gelingt, werden äußere Reize genutzt, um inneren Schmerz zu vermeiden. Das Handy wird dann zum Container, der kurzzeitig Erleichterung bringt – aber keine wirkliche Verarbeitung.

Vom Wiederholen zum Verstehen

In einer psychoanalytischen Behandlung steht nicht die „digitale Abstinenz“ im Vordergrund, sondern das Verstehen der inneren Funktion des digitalen Konsums.
Fragen könnten lauten:

  • Was vermeide ich, wenn ich ins Handy flüchte?

  • Welche Gefühle tauchen auf, wenn ich offline bin?

  • Welche Beziehungserfahrungen wiederholen sich im digitalen Raum?

Im geschützten therapeutischen Rahmen kann sichtbar werden, dass die „Sucht“ oft ein Versuch ist, seelische Spannung zu regulieren, Kontakt herzustellen – oder sich vor einem alten Schmerz zu schützen.
Das Ziel ist nicht, das Handy loszuwerden, sondern das innere Erleben wieder in Verbindung mit der äußeren Realität zu bringen.


📚 Literatur und psychoanalytische Bezüge

  • Freud, S. (1920). Jenseits des Lustprinzips.

  • Winnicott, D. W. (1953). Transitional Objects and Transitional Phenomena. International Journal of Psychoanalysis, 34, 89–97.

  • Green, A. (1999). The Work of the Negative. London: Free Association Books.

  • Bion, W. R. (1962). Learning from Experience. London: Heinemann.

  • Turkle, S. (2011). Alone Together: Why We Expect More from Technology and Less from Each Other. New York: Basic Books.

  • Lafontaine, D. (2015). Digitaler Narzissmus – Das Leben im Zeitalter der virtuellen Kommunikation. Wien: Passagen Verlag.

  • King, D. L., & Delfabbro, P. H. (2018). Internet Gaming Disorder: Theory, Assessment, Treatment, and Prevention. Elsevier Academic Press.


🌱 Abschließende Gedanken

Handysucht und Computerspielsucht sind keine Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck eines seelischen Konflikts, der sich im digitalen Raum zeigt.
Wenn man beginnt zu verstehen, was das Gerät innerlich bedeutet, entsteht Raum für etwas Neues: echte Verbindung, Lebendigkeit und das Gefühl, wieder selbst am Steuer zu sitzen – nicht der Algorithmus, nicht das Spiel, sondern das eigene Selbst.

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